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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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ich möchte auch alle Forderungen, die man an den epischen Dichter von pgo_358.002
Seiten der Form macht, haarscharf erfüllen. Diese Maschinerie aber, die pgo_358.003
bei einem so modernen Stoffe, in einem so prosaischen Zeitalter die größte pgo_358.004
Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Jnteresse in einem hohen Grade pgo_358.005
erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt wird. Es rollen pgo_358.006
allerlei Jdeeen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es pgo_358.007
wird sich noch etwas Helles daraus bilden. Aber welches Metrum ich pgo_358.008
dazu wählen würde, erräthst Du wohl schwerlich. -- Kein anderes, als pgo_358.009
ottave rime. Alle andern, das jambische ausgenommen, sind mir in den pgo_358.010
Tod zuwider, und wie angenehm müßte der Ernst, das Erhabene in so pgo_358.011
leichten Fesseln spielen! wie sehr der epische Gehalt durch die weiche, pgo_358.012
sanfte Form schöner Reime gewinnen! Singen muß man es können, pgo_358.013
wie die griechischen Bauern die Jliade, wie die Gondoliere in Venedig pgo_358.014
die Stanzen aus dem befreiten Jerusalem. Auch über die Epoche aus pgo_358.015
Friedrich's Leben, die ich wählen würde, hab' ich nachgedacht. Jch hätte pgo_358.016
gern eine unglückliche Situation, welche seinen Geist unendlich poetischer pgo_358.017
entwickeln läßt. Die Haupthandlung müßte, wo möglich, sehr einfach pgo_358.018
und wenig verwickelt sein, daß das Ganze immer leicht zu übersehen pgo_358.019
bleibe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig wären. Jch würde pgo_358.020
darum immer sein ganzes Leben und sein Jahrhundert darin anschauen pgo_358.021
lassen. Es giebt hier kein besseres Muster als die Jliade." Diese Winke pgo_358.022
Schiller's sind bedeutsam für die Neugestaltung eines volksthümlichen pgo_358.023
Kunstepos, das weder in dem Roman, noch in der poetischen Erzählung pgo_358.024
einen vollkommenen Ersatz finden kann. Wir mögen selbst von irgend pgo_358.025
einer mythologischen und phantastischen Maschinerie abstrahiren, eine pgo_358.026
äußerliche Forderung der Kunstrichter, die Schiller allzusehr imponirte, pgo_358.027
obgleich auch auf diesem Gebiete noch ein genialer Treffer möglich war; pgo_358.028
wir mögen hinter die ottave rime ein Fragezeichen machen, ohne gerade pgo_358.029
den Hexameter an ihre Stelle zu setzen -- aber im Wesentlichen zeigen pgo_358.030
diese Betrachtungen Schiller's unsern Dichtern den Weg zu einer idealeren pgo_358.031
epischen Kunstform, zu der sich unsere Poesie aus der jung-deutschen pgo_358.032
Prosa-Zersplitterung und ihren Nachklängen, den ersten Gährungen des pgo_358.033
modernen Elements, wieder emporraffen muß. Ein historisches Epos in pgo_358.034
diesem Schiller'schen Sinne wird ebenso hoch über dem historischen pgo_358.035
Roman stehn, wie Goethe's idyllisches Epos: Hermann und Dorothea

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/380>, abgerufen am 28.04.2024.