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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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an, insofern es die theatralische Wirklichkeit als Grundbedingung pgo_464.002
seiner Lebensfähigkeit festhält; es benutze den Reichthum der Dekorationen pgo_464.003
und Maschinerieen, über den die heutige Bühne gebietet, für seine pgo_464.004
phantasievolle Beweglichkeit, für seine mythische Erfindung; denn hier pgo_464.005
ist gerade der Ort, wo das Mythische noch eine Stätte findet. An die pgo_464.006
Stelle des Gesanges in der Zauberposse setze es eine kunstvolle Lyrik mit pgo_464.007
rhythmischem Farbenreichthum, wie Platen und Prutz, aber mit einer pgo_464.008
allgemeinverständlichen, schlagenden Komik. Für den antiken Chor pgo_464.009
irgend einen Ersatz zu finden, wird die Aufgabe dieser humoristischen pgo_464.010
Talente sein. Die Erfindung einer spannenden Fabel wird, im Unterschiede pgo_464.011
von Aristophanes und Tieck, diesem Lustspiele nicht erlassen werden pgo_464.012
können; von Shakespeare mag es das sinnvolle Verweben des menschlichen pgo_464.013
und elementarischen Geschickes lernen! Die Sprache selbst sei mit pgo_464.014
dem ganzen Zauber der Jdealität ausgestattet. An Stoff aber dürfte es pgo_464.015
einem solchen Lustspieldichter in unserer Zeit nicht fehlen; denn abgesehen pgo_464.016
von der literarischen und politischen Satyre -- welche Fundgrube wäre pgo_464.017
für Aristophanes der Geldschwindel und der Materialismus unserer Zeit, pgo_464.018
dessen Vertreter er zwar nicht wie Sokrates in der Luft schweben, aber pgo_464.019
vielleicht in irgend einer sichtbaren Phase des Stoffwechsels dem Publikum pgo_464.020
vorführen würde!

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2. Das realistische Lustspiel.

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Aus der allgemeinen Sphäre der Weltthorheit und ihrer symbolischgrotesken pgo_464.023
Gestaltung, aus diesem Reich der phantastischen Laune zieht pgo_464.024
sich die Lustspielmuse in das Privatleben zurück, um in einem engeren pgo_464.025
dramatischen Rahmen die Komik am Faden einer bestimmten Handlung pgo_464.026
und durch die Ausmalung bestimmter Charaktere zu entwickeln. Die pgo_464.027
Thorheit wird eine individuelle, die Maske wird zum Portrait, die pgo_464.028
Komödie das Abbild der Wirklichkeit. Was sie dadurch verliert, indem pgo_464.029
die erhabene Seite des Komischen, der Welt verspottende Humor, die pgo_464.030
großartige Dithyrambik geopfert werden muß: das gewinnt sie wieder pgo_464.031
durch die schärfere Betonung des Dramatischen, den spannenden Fortgang pgo_464.032
der Handlung, den Reichthum individueller Charakteristik, die pgo_464.033
Verwicklung und Lösung der Jntrigue. Diesen Schritt that bekanntlich pgo_464.034
schon die mittlere attische Komödie, die neuere führte die neue Form zur

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/486>, abgerufen am 04.05.2024.