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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Thiere sprechen und handeln läßt, um irgend eine moralische Lehre pgo_073.002
dadurch anschaulich zu machen, ist wohl hauptsächlich die größere Charakterbestimmtheit pgo_073.003
der Thiere, die gleichsam in einer einzigen Eigenschaft pgo_073.004
aufgeht. Der Fuchs vertritt die List, der Wolf den Räubersinn, das pgo_073.005
Lamm die Sanftmuth. Es ist gleichsam eine Hieroglyphensprache, pgo_073.006
welche dem gemeinen Bewußtsein verständlich ist. Der Mensch dagegen pgo_073.007
eignet sich nicht zu solchen bildlichen Abbreviaturen des Begriffes, weil in pgo_073.008
jedem Einzelnen eine Fülle von Eigenschaften lebendig ist. Hierzu pgo_073.009
kommt, daß wir an Geschichten aus der Menschenwelt alsbald einen pgo_073.010
Antheil des Gemüthes nehmen, während die Thierwelt zur ungetrübten pgo_073.011
Versinnlichung einer Lehre darum geeigneter ist, weil wir ihren Geschicken pgo_073.012
nur eine mäßige Theilnahme schenken, welche die Erkenntniß des moralischen pgo_073.013
Gedankens durch keine Gefühlsaufregung zu verdunkeln vermag.

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Der Mittelpunkt der Poesie ist der Mensch. Die landschaftliche pgo_073.015
Natur ist sein Spiegel, Pflanzen- und Thierwelt die Symbolik seines pgo_073.016
Wesens. Erst im Reiche des Geistes kann die Dichtkunst den höchsten pgo_073.017
Aufschwung nehmen! Die menschliche Gestalt hat ihre Symbolik; sie pgo_073.018
kündet schon mit beredteren Zügen den Geist! Wie der Dichter die pgo_073.019
Schönheit schildern soll, haben wir schon oben gesehn! Die ideale pgo_073.020
plastische Schönheit, das Götterbild, liegt seiner Kunst am fernsten, pgo_073.021
dagegen ist das Jnteressante, Reizende, Pikante, Ausdrucksvolle der pgo_073.022
äußern Erscheinung für sie ein günstiger Vorwurf. Jn der Schilderung pgo_073.023
der Physiognomie darf der Poet nie die Grenzen jenes bekannten Schillerschen pgo_073.024
Spruches überschreiten:

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Es ist der Geist, der sich den Körper baut!

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Ein Aneinanderreihen unwesentlicher, gleichgültiger Züge würde jeden pgo_073.027
bestimmten Eindruck verwischen. Die Physiognomie ist dem Dichter nur pgo_073.028
Mittel der Charakterdarstellung! Der Charakter, die unendliche persönliche pgo_073.029
Eigenheit, aus einer Mischung von Naturanlage, Temperament pgo_073.030
und Grundsätzen hervorgegangen, ist der Quellpunkt aller großen Dichtgattungen pgo_073.031
der Neuzeit. Der Dichter würde indeß seine Kunst schlecht pgo_073.032
verstehn, wenn er gleich von vornherein ein wohlgetroffenes und sorgfältig pgo_073.033
ausgeführtes Portrait seiner Helden seinem Werke vorausschicken pgo_073.034
wollte. Der Charakter darf von ihm nie als ein fertiges Ganzes pgo_073.035
geschildert werden; er muß Zug auf Zug in freier Entwickelung aus der

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/95>, abgerufen am 26.04.2024.