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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Charactere eines Poeten.
ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennet;
so sieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von ei-
nem Poeten wird geben können, als ein Philosoph: Aber ein
solcher Philosoph, der von der Poesie philosophiren kan; wel-
ches sich nicht bey allen findet, die jenen Nahmen sonst gar
wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit
sich mit seinen philosophischen Untersuchungen zu den freyen
Künsten zu wenden, und da lange nachzugrübeln: Woher
es komme, daß dieses schön und jenes heßlich sey, dieses wohl
und jenes übel gefalle? Wer dieses aber thut, der bekommt
einen besondern Nahmen und heißt ein Criticus: dadurch ich
nehmlich nichts anders verstehe, als einen Gelehrten, der von
freyen Künsten philosophiren kan. Was uns nun dergleichen
Critici, solche philosophische Poeten, oder Poesie-verständige
Philosophen sagen werden, das wird wohl ohne Zweifel weit
gründlicher seyn, und einen richtigern Begriff von einem
wahren Dichter bey uns erwecken, als was der grosse Haufe,
nach einer betrüglichen Empfindung seines unbeständigen
Geschmackes, zu loben oder zu tadeln pflegt.

Unter den Griechen ist ohne Zweifel Aristoteles der beste
Criticus gewesen, was nehmlich die Redekunst und Poesie
anlanget. Es ist ein Glück, daß seine Schrifften von beyden
nicht gantz verlohren gegangen: denn von der Dichtkunst ha-
ben wir freylich nur einen Theil übrig behalten. Jndessen
zeugen doch diese beyde Bücher, eben sowohl von dem durch-
dringenden Verstande dieses grossen Weltweisen, als seine
übrige Schrifften. Er hat das innere Wesen der Bered-
samkeit und Poeterey aufs gründlichste eingesehen, und alle
Regeln so er vorschreibet, gründen sich auf die unveränderli-
che Natur der Menschen, und auf die gesunde Vernunft.
Nichts würde also vor mich erwünschter seyn, als wenn dieser
tiefsinnige Mann auch den ausführlichen Character eines
wahren Poeten gemacht hätte: denn so dörfte man sich nur
daran halten, und sich selbst sowohl als andre, nach Anleitung
desselben gehörig prüfen. Allein wir finden zum wenigsten
in seiner Poetic etwas, C. I. II. III. so uns auf die rechte Spur
helfen kan. Er lehrt gleich im Anfange derselben, daß die

gantze
F

Von dem Charactere eines Poeten.
ein gruͤndliches Erkenntniß aller Dinge Philoſophie nennet;
ſo ſieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von ei-
nem Poeten wird geben koͤnnen, als ein Philoſoph: Aber ein
ſolcher Philoſoph, der von der Poeſie philoſophiren kan; wel-
ches ſich nicht bey allen findet, die jenen Nahmen ſonſt gar
wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit
ſich mit ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen zu den freyen
Kuͤnſten zu wenden, und da lange nachzugruͤbeln: Woher
es komme, daß dieſes ſchoͤn und jenes heßlich ſey, dieſes wohl
und jenes uͤbel gefalle? Wer dieſes aber thut, der bekommt
einen beſondern Nahmen und heißt ein Criticus: dadurch ich
nehmlich nichts anders verſtehe, als einen Gelehrten, der von
freyen Kuͤnſten philoſophiren kan. Was uns nun dergleichen
Critici, ſolche philoſophiſche Poeten, oder Poeſie-verſtaͤndige
Philoſophen ſagen werden, das wird wohl ohne Zweifel weit
gruͤndlicher ſeyn, und einen richtigern Begriff von einem
wahren Dichter bey uns erwecken, als was der groſſe Haufe,
nach einer betruͤglichen Empfindung ſeines unbeſtaͤndigen
Geſchmackes, zu loben oder zu tadeln pflegt.

Unter den Griechen iſt ohne Zweifel Ariſtoteles der beſte
Criticus geweſen, was nehmlich die Redekunſt und Poeſie
anlanget. Es iſt ein Gluͤck, daß ſeine Schrifften von beyden
nicht gantz verlohren gegangen: denn von der Dichtkunſt ha-
ben wir freylich nur einen Theil uͤbrig behalten. Jndeſſen
zeugen doch dieſe beyde Buͤcher, eben ſowohl von dem durch-
dringenden Verſtande dieſes groſſen Weltweiſen, als ſeine
uͤbrige Schrifften. Er hat das innere Weſen der Bered-
ſamkeit und Poeterey aufs gruͤndlichſte eingeſehen, und alle
Regeln ſo er vorſchreibet, gruͤnden ſich auf die unveraͤnderli-
che Natur der Menſchen, und auf die geſunde Vernunft.
Nichts wuͤrde alſo vor mich erwuͤnſchter ſeyn, als wenn dieſer
tiefſinnige Mann auch den ausfuͤhrlichen Character eines
wahren Poeten gemacht haͤtte: denn ſo doͤrfte man ſich nur
daran halten, und ſich ſelbſt ſowohl als andre, nach Anleitung
deſſelben gehoͤrig pruͤfen. Allein wir finden zum wenigſten
in ſeiner Poetic etwas, C. I. II. III. ſo uns auf die rechte Spur
helfen kan. Er lehrt gleich im Anfange derſelben, daß die

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F
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[81/0109] Von dem Charactere eines Poeten. ein gruͤndliches Erkenntniß aller Dinge Philoſophie nennet; ſo ſieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von ei- nem Poeten wird geben koͤnnen, als ein Philoſoph: Aber ein ſolcher Philoſoph, der von der Poeſie philoſophiren kan; wel- ches ſich nicht bey allen findet, die jenen Nahmen ſonſt gar wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit ſich mit ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen zu den freyen Kuͤnſten zu wenden, und da lange nachzugruͤbeln: Woher es komme, daß dieſes ſchoͤn und jenes heßlich ſey, dieſes wohl und jenes uͤbel gefalle? Wer dieſes aber thut, der bekommt einen beſondern Nahmen und heißt ein Criticus: dadurch ich nehmlich nichts anders verſtehe, als einen Gelehrten, der von freyen Kuͤnſten philoſophiren kan. Was uns nun dergleichen Critici, ſolche philoſophiſche Poeten, oder Poeſie-verſtaͤndige Philoſophen ſagen werden, das wird wohl ohne Zweifel weit gruͤndlicher ſeyn, und einen richtigern Begriff von einem wahren Dichter bey uns erwecken, als was der groſſe Haufe, nach einer betruͤglichen Empfindung ſeines unbeſtaͤndigen Geſchmackes, zu loben oder zu tadeln pflegt. Unter den Griechen iſt ohne Zweifel Ariſtoteles der beſte Criticus geweſen, was nehmlich die Redekunſt und Poeſie anlanget. Es iſt ein Gluͤck, daß ſeine Schrifften von beyden nicht gantz verlohren gegangen: denn von der Dichtkunſt ha- ben wir freylich nur einen Theil uͤbrig behalten. Jndeſſen zeugen doch dieſe beyde Buͤcher, eben ſowohl von dem durch- dringenden Verſtande dieſes groſſen Weltweiſen, als ſeine uͤbrige Schrifften. Er hat das innere Weſen der Bered- ſamkeit und Poeterey aufs gruͤndlichſte eingeſehen, und alle Regeln ſo er vorſchreibet, gruͤnden ſich auf die unveraͤnderli- che Natur der Menſchen, und auf die geſunde Vernunft. Nichts wuͤrde alſo vor mich erwuͤnſchter ſeyn, als wenn dieſer tiefſinnige Mann auch den ausfuͤhrlichen Character eines wahren Poeten gemacht haͤtte: denn ſo doͤrfte man ſich nur daran halten, und ſich ſelbſt ſowohl als andre, nach Anleitung deſſelben gehoͤrig pruͤfen. Allein wir finden zum wenigſten in ſeiner Poetic etwas, C. I. II. III. ſo uns auf die rechte Spur helfen kan. Er lehrt gleich im Anfange derſelben, daß die gantze F

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/109>, abgerufen am 29.04.2024.