Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Das XI. Capitel
mit einer Lehre, die aus der Sache fließet, und seine vo-
rige Beschreibung erbaulich macht. Das mag ein Muster
einer vollkommen schönen poetischen Schreibart abgeben:
Denn

Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci,
Lectorem delectando pariterque monendo.

Jch habe mit gutem Bedachte eine Stelle zum Beyspiel
gewehlt, darinn das poetische Wesen in voller Stärcke zu
sehen ist, damit man es desto handgreiflicher spüren und wahr-
nehmen möchte. Denn freylich giebt es verschiedene Grade
derselben. Die eine ist an Einfällen und Gedancken rei-
cher, die andre ärmer; nachdem entweder ihr Verfasser
mehr oder weniger Geist und Witz besessen, oder in einer
gewissen Art von Gedichten anbringen können und wollen.
Woraus entsteht sie aber in diesem so vollständigen Exem-
pel anders, als aus den häufigen und kühnen Metaphoren,
Metonymien und andern verblümten Redensarten; aus leb-
hafften Beschreibungen, kurtz angebrachten Gleichnissen, und
feurigen Figuren, die den innern Affect des Poeten abschil-
dern? Niemand sage mir, daß man dieses alles auch in Pro-
sa thun könne. Freylich kan es geschehen; aber es wird auch
dann eine ungebundne poetische Schreibart seyn. Kein gu-
ter prosaischer Scribent hat jemahls soviel Zierrathe zusam-
mengehäufet; und wenn er es gethan, so haben alle Critici
gesagt, er schreibe poetisch. Es läuft auch wieder die Ab-
sichten so sich z. E. ein Geschichtschreiber vorsetzen muß. Sein
Zweck ist die nackte Wahrheit zu sagen, das ist, die Begeben-
heiten, so sich zugetragen haben, ohne allen Firniß, ohne alle
Schmincke zu erzehlen. Thäte er das nicht, so würden seine
Leser nicht wissen ob sie ihm glauben sollten, oder nicht. Sei-
ne große Begierde geistreich zu schreiben, würde ihnen einen
Argwohn beybringen, ob er auch die Liebe zur Wahrheit aus
den Augen gesetzt. Das ist das Urtheil so man vom Cur-
tius mit Grunde zu fällen pflegt. Man traut seinen Nach-
richten nicht; weil sie gar zu schön klingen. Florus hat es
noch ärger gemacht. Seneca, Apulejus, Sidonius Apol-

lina-

Das XI. Capitel
mit einer Lehre, die aus der Sache fließet, und ſeine vo-
rige Beſchreibung erbaulich macht. Das mag ein Muſter
einer vollkommen ſchoͤnen poetiſchen Schreibart abgeben:
Denn

Omne tulit punctum, qui miſcuit utile dulci,
Lectorem delectando pariterque monendo.

Jch habe mit gutem Bedachte eine Stelle zum Beyſpiel
gewehlt, darinn das poetiſche Weſen in voller Staͤrcke zu
ſehen iſt, damit man es deſto handgreiflicher ſpuͤren und wahr-
nehmen moͤchte. Denn freylich giebt es verſchiedene Grade
derſelben. Die eine iſt an Einfaͤllen und Gedancken rei-
cher, die andre aͤrmer; nachdem entweder ihr Verfaſſer
mehr oder weniger Geiſt und Witz beſeſſen, oder in einer
gewiſſen Art von Gedichten anbringen koͤnnen und wollen.
Woraus entſteht ſie aber in dieſem ſo vollſtaͤndigen Exem-
pel anders, als aus den haͤufigen und kuͤhnen Metaphoren,
Metonymien und andern verbluͤmten Redensarten; aus leb-
hafften Beſchreibungen, kurtz angebrachten Gleichniſſen, und
feurigen Figuren, die den innern Affect des Poeten abſchil-
dern? Niemand ſage mir, daß man dieſes alles auch in Pro-
ſa thun koͤnne. Freylich kan es geſchehen; aber es wird auch
dann eine ungebundne poetiſche Schreibart ſeyn. Kein gu-
ter proſaiſcher Scribent hat jemahls ſoviel Zierrathe zuſam-
mengehaͤufet; und wenn er es gethan, ſo haben alle Critici
geſagt, er ſchreibe poetiſch. Es laͤuft auch wieder die Ab-
ſichten ſo ſich z. E. ein Geſchichtſchreiber vorſetzen muß. Sein
Zweck iſt die nackte Wahrheit zu ſagen, das iſt, die Begeben-
heiten, ſo ſich zugetragen haben, ohne allen Firniß, ohne alle
Schmincke zu erzehlen. Thaͤte er das nicht, ſo wuͤrden ſeine
Leſer nicht wiſſen ob ſie ihm glauben ſollten, oder nicht. Sei-
ne große Begierde geiſtreich zu ſchreiben, wuͤrde ihnen einen
Argwohn beybringen, ob er auch die Liebe zur Wahrheit aus
den Augen geſetzt. Das iſt das Urtheil ſo man vom Cur-
tius mit Grunde zu faͤllen pflegt. Man traut ſeinen Nach-
richten nicht; weil ſie gar zu ſchoͤn klingen. Florus hat es
noch aͤrger gemacht. Seneca, Apulejus, Sidonius Apol-

lina-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0316" n="288"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">XI.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
mit einer Lehre, die aus der Sache fließet, und &#x017F;eine vo-<lb/>
rige Be&#x017F;chreibung erbaulich macht. Das mag ein Mu&#x017F;ter<lb/>
einer vollkommen &#x017F;cho&#x0364;nen poeti&#x017F;chen Schreibart abgeben:<lb/>
Denn</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l> <hi rendition="#aq">Omne tulit punctum, qui mi&#x017F;cuit utile dulci,</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Lectorem delectando pariterque monendo.</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>Jch habe mit gutem Bedachte eine Stelle zum Bey&#x017F;piel<lb/>
gewehlt, darinn das poeti&#x017F;che We&#x017F;en in voller Sta&#x0364;rcke zu<lb/>
&#x017F;ehen i&#x017F;t, damit man es de&#x017F;to handgreiflicher &#x017F;pu&#x0364;ren und wahr-<lb/>
nehmen mo&#x0364;chte. Denn freylich giebt es ver&#x017F;chiedene Grade<lb/>
der&#x017F;elben. Die eine i&#x017F;t an Einfa&#x0364;llen und Gedancken rei-<lb/>
cher, die andre a&#x0364;rmer; nachdem entweder ihr Verfa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
mehr oder weniger Gei&#x017F;t und Witz be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en, oder in einer<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Art von Gedichten anbringen ko&#x0364;nnen und wollen.<lb/>
Woraus ent&#x017F;teht &#x017F;ie aber in die&#x017F;em &#x017F;o voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen Exem-<lb/>
pel anders, als aus den ha&#x0364;ufigen und ku&#x0364;hnen Metaphoren,<lb/>
Metonymien und andern verblu&#x0364;mten Redensarten; aus leb-<lb/>
hafften Be&#x017F;chreibungen, kurtz angebrachten Gleichni&#x017F;&#x017F;en, und<lb/>
feurigen Figuren, die den innern Affect des Poeten ab&#x017F;chil-<lb/>
dern? Niemand &#x017F;age mir, daß man die&#x017F;es alles auch in Pro-<lb/>
&#x017F;a thun ko&#x0364;nne. Freylich kan es ge&#x017F;chehen; aber es wird auch<lb/>
dann eine ungebundne poeti&#x017F;che Schreibart &#x017F;eyn. Kein gu-<lb/>
ter pro&#x017F;ai&#x017F;cher Scribent hat jemahls &#x017F;oviel Zierrathe zu&#x017F;am-<lb/>
mengeha&#x0364;ufet; und wenn er es gethan, &#x017F;o haben alle Critici<lb/>
ge&#x017F;agt, er &#x017F;chreibe poeti&#x017F;ch. Es la&#x0364;uft auch wieder die Ab-<lb/>
&#x017F;ichten &#x017F;o &#x017F;ich z. E. ein Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber vor&#x017F;etzen muß. Sein<lb/>
Zweck i&#x017F;t die nackte Wahrheit zu &#x017F;agen, das i&#x017F;t, die Begeben-<lb/>
heiten, &#x017F;o &#x017F;ich zugetragen haben, ohne allen Firniß, ohne alle<lb/>
Schmincke zu erzehlen. Tha&#x0364;te er das nicht, &#x017F;o wu&#x0364;rden &#x017F;eine<lb/>
Le&#x017F;er nicht wi&#x017F;&#x017F;en ob &#x017F;ie ihm glauben &#x017F;ollten, oder nicht. Sei-<lb/>
ne große Begierde gei&#x017F;treich zu &#x017F;chreiben, wu&#x0364;rde ihnen einen<lb/>
Argwohn beybringen, ob er auch die Liebe zur Wahrheit aus<lb/>
den Augen ge&#x017F;etzt. Das i&#x017F;t das Urtheil &#x017F;o man vom Cur-<lb/>
tius mit Grunde zu fa&#x0364;llen pflegt. Man traut &#x017F;einen Nach-<lb/>
richten nicht; weil &#x017F;ie gar zu &#x017F;cho&#x0364;n klingen. Florus hat es<lb/>
noch a&#x0364;rger gemacht. Seneca, Apulejus, Sidonius Apol-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lina-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[288/0316] Das XI. Capitel mit einer Lehre, die aus der Sache fließet, und ſeine vo- rige Beſchreibung erbaulich macht. Das mag ein Muſter einer vollkommen ſchoͤnen poetiſchen Schreibart abgeben: Denn Omne tulit punctum, qui miſcuit utile dulci, Lectorem delectando pariterque monendo. Jch habe mit gutem Bedachte eine Stelle zum Beyſpiel gewehlt, darinn das poetiſche Weſen in voller Staͤrcke zu ſehen iſt, damit man es deſto handgreiflicher ſpuͤren und wahr- nehmen moͤchte. Denn freylich giebt es verſchiedene Grade derſelben. Die eine iſt an Einfaͤllen und Gedancken rei- cher, die andre aͤrmer; nachdem entweder ihr Verfaſſer mehr oder weniger Geiſt und Witz beſeſſen, oder in einer gewiſſen Art von Gedichten anbringen koͤnnen und wollen. Woraus entſteht ſie aber in dieſem ſo vollſtaͤndigen Exem- pel anders, als aus den haͤufigen und kuͤhnen Metaphoren, Metonymien und andern verbluͤmten Redensarten; aus leb- hafften Beſchreibungen, kurtz angebrachten Gleichniſſen, und feurigen Figuren, die den innern Affect des Poeten abſchil- dern? Niemand ſage mir, daß man dieſes alles auch in Pro- ſa thun koͤnne. Freylich kan es geſchehen; aber es wird auch dann eine ungebundne poetiſche Schreibart ſeyn. Kein gu- ter proſaiſcher Scribent hat jemahls ſoviel Zierrathe zuſam- mengehaͤufet; und wenn er es gethan, ſo haben alle Critici geſagt, er ſchreibe poetiſch. Es laͤuft auch wieder die Ab- ſichten ſo ſich z. E. ein Geſchichtſchreiber vorſetzen muß. Sein Zweck iſt die nackte Wahrheit zu ſagen, das iſt, die Begeben- heiten, ſo ſich zugetragen haben, ohne allen Firniß, ohne alle Schmincke zu erzehlen. Thaͤte er das nicht, ſo wuͤrden ſeine Leſer nicht wiſſen ob ſie ihm glauben ſollten, oder nicht. Sei- ne große Begierde geiſtreich zu ſchreiben, wuͤrde ihnen einen Argwohn beybringen, ob er auch die Liebe zur Wahrheit aus den Augen geſetzt. Das iſt das Urtheil ſo man vom Cur- tius mit Grunde zu faͤllen pflegt. Man traut ſeinen Nach- richten nicht; weil ſie gar zu ſchoͤn klingen. Florus hat es noch aͤrger gemacht. Seneca, Apulejus, Sidonius Apol- lina-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/316
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/316>, abgerufen am 04.12.2024.