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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils II Capitel
welches ohne Zweifel vom Beten den Nahmen hat, weil
dergleichen geistliche Gedichte zu Kirchen-Stücken gebraucht
werden. Redet ein Paar mit einander, so nennen es die
Musici ein Duetto; kommen drey Personen in der Poesie,
und im Gesange folglich drey Stimmen vor, so nennet man
es A Trio. Redeten aber noch mehrere mit einander, so, daß
es auch desto länger würde, so müste es eine Serenata heissen,
und könnte zu Tafel- und Abend-Musicken, imgleichen bey
musicalischen Concerten gebraucht werden. Käme aber ausser
den Unterredungen auch eine Handlung darinne vor, so
könnte es ein Drama heissen; wenn es nur sonst so eingerich-
tet wäre. Denn auch hier muß man mercken daß es epische
und dramatische Cantaten, Serenaten, oder wie mans nen-
nen will, geben könne. Wenn der Poet selbst darinn redet,
so ist es episch verfasset, obgleich hier und da auch andre Per-
sonen redend eingeführet werden. Läst aber der Poet durch-
gehends andre Personen reden und handeln, so, daß er selbst
nichts darzwischen sagt, sondern so zu reden unsichtbar ist:
So entsteht ein kleines Theatralisches Stück daraus, welches
von dem Griechischen dran, handeln, thun, ein Drama ge-
nennt wird. Singen nun die auftretenden Personen ihre
Rollen ab; so ist ein solch Drama gleichsam eine kleine Ope-
ra, die etwa so lange als ein Actus einer grossen Oper dauret,
und nach Gelegenheit drey, vier oder fünf Auftritte hat. Wie
die innere Einrichtung eines solchen Dramatischen Stückes
seyn müsse, läßt sich erst in dem Capitel von Theatralischen
Spielen zeigen. Denn ungeachtet solche Dramata selten
auf die Schaubühne kommen, sondern nur mehrentheils in
Zimmern gesungen werden; ohne daß die Sänger in gehöri-
gem Habite erscheinen, und wircklich das vorstellen was sie
singen: So müssen sie doch aufs genaueste so eingerichtet
werden, daß sie gespielet werden könnten. Wie viele Poeten
es in diesem Stücke versehen, wenn sie weder die Einigkeit
der Zeit, noch der Handlung, noch des Ortes beobachten, lehrt
die Erfahrung: zu geschweigen daß sie offt solche Sachen hin-
einbringen, die sich gar nicht würden vorstellen lassen. Jch
will ein Paar Exempel von meiner Art zur Probe hersetzen,
die, bloß die Serenade vom Orpheus ausgenommen, wirck-
ich musicalisch aufgeführet worden:

Can-

Des II Theils II Capitel
welches ohne Zweifel vom Beten den Nahmen hat, weil
dergleichen geiſtliche Gedichte zu Kirchen-Stuͤcken gebraucht
werden. Redet ein Paar mit einander, ſo nennen es die
Muſici ein Duetto; kommen drey Perſonen in der Poeſie,
und im Geſange folglich drey Stimmen vor, ſo nennet man
es A Trio. Redeten aber noch mehrere mit einander, ſo, daß
es auch deſto laͤnger wuͤrde, ſo muͤſte es eine Serenata heiſſen,
und koͤnnte zu Tafel- und Abend-Muſicken, imgleichen bey
muſicaliſchen Concerten gebraucht werden. Kaͤme aber auſſer
den Unterredungen auch eine Handlung darinne vor, ſo
koͤnnte es ein Drama heiſſen; wenn es nur ſonſt ſo eingerich-
tet waͤre. Denn auch hier muß man mercken daß es epiſche
und dramatiſche Cantaten, Serenaten, oder wie mans nen-
nen will, geben koͤnne. Wenn der Poet ſelbſt darinn redet,
ſo iſt es epiſch verfaſſet, obgleich hier und da auch andre Per-
ſonen redend eingefuͤhret werden. Laͤſt aber der Poet durch-
gehends andre Perſonen reden und handeln, ſo, daß er ſelbſt
nichts darzwiſchen ſagt, ſondern ſo zu reden unſichtbar iſt:
So entſteht ein kleines Theatraliſches Stuͤck daraus, welches
von dem Griechiſchen δρᾶν, handeln, thun, ein Drama ge-
nennt wird. Singen nun die auftretenden Perſonen ihre
Rollen ab; ſo iſt ein ſolch Drama gleichſam eine kleine Ope-
ra, die etwa ſo lange als ein Actus einer groſſen Oper dauret,
und nach Gelegenheit drey, vier oder fuͤnf Auftritte hat. Wie
die innere Einrichtung eines ſolchen Dramatiſchen Stuͤckes
ſeyn muͤſſe, laͤßt ſich erſt in dem Capitel von Theatraliſchen
Spielen zeigen. Denn ungeachtet ſolche Dramata ſelten
auf die Schaubuͤhne kommen, ſondern nur mehrentheils in
Zimmern geſungen werden; ohne daß die Saͤnger in gehoͤri-
gem Habite erſcheinen, und wircklich das vorſtellen was ſie
ſingen: So muͤſſen ſie doch aufs genaueſte ſo eingerichtet
werden, daß ſie geſpielet werden koͤnnten. Wie viele Poeten
es in dieſem Stuͤcke verſehen, wenn ſie weder die Einigkeit
der Zeit, noch der Handlung, noch des Ortes beobachten, lehrt
die Erfahrung: zu geſchweigen daß ſie offt ſolche Sachen hin-
einbringen, die ſich gar nicht wuͤrden vorſtellen laſſen. Jch
will ein Paar Exempel von meiner Art zur Probe herſetzen,
die, bloß die Serenade vom Orpheus ausgenommen, wirck-
ich muſicaliſch aufgefuͤhret worden:

Can-
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[364/0392] Des II Theils II Capitel welches ohne Zweifel vom Beten den Nahmen hat, weil dergleichen geiſtliche Gedichte zu Kirchen-Stuͤcken gebraucht werden. Redet ein Paar mit einander, ſo nennen es die Muſici ein Duetto; kommen drey Perſonen in der Poeſie, und im Geſange folglich drey Stimmen vor, ſo nennet man es A Trio. Redeten aber noch mehrere mit einander, ſo, daß es auch deſto laͤnger wuͤrde, ſo muͤſte es eine Serenata heiſſen, und koͤnnte zu Tafel- und Abend-Muſicken, imgleichen bey muſicaliſchen Concerten gebraucht werden. Kaͤme aber auſſer den Unterredungen auch eine Handlung darinne vor, ſo koͤnnte es ein Drama heiſſen; wenn es nur ſonſt ſo eingerich- tet waͤre. Denn auch hier muß man mercken daß es epiſche und dramatiſche Cantaten, Serenaten, oder wie mans nen- nen will, geben koͤnne. Wenn der Poet ſelbſt darinn redet, ſo iſt es epiſch verfaſſet, obgleich hier und da auch andre Per- ſonen redend eingefuͤhret werden. Laͤſt aber der Poet durch- gehends andre Perſonen reden und handeln, ſo, daß er ſelbſt nichts darzwiſchen ſagt, ſondern ſo zu reden unſichtbar iſt: So entſteht ein kleines Theatraliſches Stuͤck daraus, welches von dem Griechiſchen δρᾶν, handeln, thun, ein Drama ge- nennt wird. Singen nun die auftretenden Perſonen ihre Rollen ab; ſo iſt ein ſolch Drama gleichſam eine kleine Ope- ra, die etwa ſo lange als ein Actus einer groſſen Oper dauret, und nach Gelegenheit drey, vier oder fuͤnf Auftritte hat. Wie die innere Einrichtung eines ſolchen Dramatiſchen Stuͤckes ſeyn muͤſſe, laͤßt ſich erſt in dem Capitel von Theatraliſchen Spielen zeigen. Denn ungeachtet ſolche Dramata ſelten auf die Schaubuͤhne kommen, ſondern nur mehrentheils in Zimmern geſungen werden; ohne daß die Saͤnger in gehoͤri- gem Habite erſcheinen, und wircklich das vorſtellen was ſie ſingen: So muͤſſen ſie doch aufs genaueſte ſo eingerichtet werden, daß ſie geſpielet werden koͤnnten. Wie viele Poeten es in dieſem Stuͤcke verſehen, wenn ſie weder die Einigkeit der Zeit, noch der Handlung, noch des Ortes beobachten, lehrt die Erfahrung: zu geſchweigen daß ſie offt ſolche Sachen hin- einbringen, die ſich gar nicht wuͤrden vorſtellen laſſen. Jch will ein Paar Exempel von meiner Art zur Probe herſetzen, die, bloß die Serenade vom Orpheus ausgenommen, wirck- ich muſicaliſch aufgefuͤhret worden: Can-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/392>, abgerufen am 26.04.2024.