Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von poetischen Sendschreiben.
kirch an Friedrich den Weisen, und Günther an den König
August die schärfsten Stellen mit einfliessen lassen. Die-
ser letztere bedient sich einmahl der Worte:

Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren schonen kan,
Jch greife sie so gar vor deinen Augen an etc.

Und in des Boileau Briefe an den Frantzösischen König
steht unter andern folgende Stelle:

Grand Roi, c' est mon defaut, je nesaurois flatter,
Je ne sai point au Ciel placer un ridicule.
D'un Nain faire un Atlas, ou d' un Lache un Hercule.

Die Art von Briefen nun läßt sich bey allerley Gelegen-
heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, über
die Sitten der Menschen seine Gedancken auszuschütten?
Wenn auch solches nur mit der gehörigen Behutsamkeit,
und Bescheidenheit gegen den, an welchen man schreibt,
geschieht; so hat ein jeder solche Briefe lieber, als leere Um-
schweife von unendlichen Wünschen oder Wortgeprängen,
die in der That nichts heißen.

Fraget man überhaupt nach den äusserlichen Eigen-
schafften eines solchen Briefes; so ist dieses zu mercken,
daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge-
richtet ist: Es sey nun, daß es gleich in der ersten Zeile ge-
schehe, oder doch bald hernach komme. So fängt Neu-
kirch z. E. einmahl an.

Mein König, zürne nicht, daß mich dein Glantz bewegt etc.

Dieses ist, so zu reden, das eigentliche Merckmahl eines
Briefes von dieser Art; denn was ist ein Brief überhaupt
anders, als eine geschriebene Anrede an einen Abwesenden?
Jn der Mitte kan dieselbe zuweilen wiederholt werden; doch
ohne grosse Titel, die nur die Zeilen füllen und nichts sagen.
Großmächtigster Monarch, heißt nichts mehr als Kö-
nig:
und Durchlauchter Fürst und Herr, bedeutet nur
eben so viel als: mein Printz, mein Herzog, oder schlecht
weg, Herr. Doch wolte ich bey diesem letztern. Worte
rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver-
schwenden: geschweige denn, bey bürgerlichen Personen zu

brau-
E e 4

Von poetiſchen Sendſchreiben.
kirch an Friedrich den Weiſen, und Guͤnther an den Koͤnig
Auguſt die ſchaͤrfſten Stellen mit einflieſſen laſſen. Die-
ſer letztere bedient ſich einmahl der Worte:

Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren ſchonen kan,
Jch greife ſie ſo gar vor deinen Augen an ꝛc.

Und in des Boileau Briefe an den Frantzoͤſiſchen Koͤnig
ſteht unter andern folgende Stelle:

Grand Roi, c’ eſt mon defaut, je neſaurois flatter,
Je ne ſai point au Ciel placer un ridicule.
D’un Nain faire un Atlas, ou d’ un Lache un Hercule.

Die Art von Briefen nun laͤßt ſich bey allerley Gelegen-
heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, uͤber
die Sitten der Menſchen ſeine Gedancken auszuſchuͤtten?
Wenn auch ſolches nur mit der gehoͤrigen Behutſamkeit,
und Beſcheidenheit gegen den, an welchen man ſchreibt,
geſchieht; ſo hat ein jeder ſolche Briefe lieber, als leere Um-
ſchweife von unendlichen Wuͤnſchen oder Wortgepraͤngen,
die in der That nichts heißen.

Fraget man uͤberhaupt nach den aͤuſſerlichen Eigen-
ſchafften eines ſolchen Briefes; ſo iſt dieſes zu mercken,
daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge-
richtet iſt: Es ſey nun, daß es gleich in der erſten Zeile ge-
ſchehe, oder doch bald hernach komme. So faͤngt Neu-
kirch z. E. einmahl an.

Mein Koͤnig, zuͤrne nicht, daß mich dein Glantz bewegt ꝛc.

Dieſes iſt, ſo zu reden, das eigentliche Merckmahl eines
Briefes von dieſer Art; denn was iſt ein Brief uͤberhaupt
anders, als eine geſchriebene Anrede an einen Abweſenden?
Jn der Mitte kan dieſelbe zuweilen wiederholt werden; doch
ohne groſſe Titel, die nur die Zeilen fuͤllen und nichts ſagen.
Großmaͤchtigſter Monarch, heißt nichts mehr als Koͤ-
nig:
und Durchlauchter Fuͤrſt und Herr, bedeutet nur
eben ſo viel als: mein Printz, mein Herzog, oder ſchlecht
weg, Herr. Doch wolte ich bey dieſem letztern. Worte
rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver-
ſchwenden: geſchweige denn, bey buͤrgerlichen Perſonen zu

brau-
E e 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0467" n="439"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von poeti&#x017F;chen Send&#x017F;chreiben.</hi></fw><lb/>
kirch an Friedrich den Wei&#x017F;en, und Gu&#x0364;nther an den Ko&#x0364;nig<lb/>
Augu&#x017F;t die &#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;ten Stellen mit einflie&#x017F;&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en. Die-<lb/>
&#x017F;er letztere bedient &#x017F;ich einmahl der Worte:</p><lb/>
          <cit>
            <quote>Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren &#x017F;chonen kan,<lb/>
Jch greife &#x017F;ie &#x017F;o gar vor deinen Augen an &#xA75B;c.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Und in des Boileau Briefe an den Frantzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Ko&#x0364;nig<lb/>
&#x017F;teht unter andern folgende Stelle:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Grand Roi, c&#x2019; e&#x017F;t mon defaut, je ne&#x017F;aurois flatter,<lb/>
Je ne &#x017F;ai point au Ciel placer un ridicule.<lb/>
D&#x2019;un Nain faire un Atlas, ou d&#x2019; un Lache un Hercule.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Die Art von Briefen nun la&#x0364;ßt &#x017F;ich bey allerley Gelegen-<lb/>
heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, u&#x0364;ber<lb/>
die Sitten der Men&#x017F;chen &#x017F;eine Gedancken auszu&#x017F;chu&#x0364;tten?<lb/>
Wenn auch &#x017F;olches nur mit der geho&#x0364;rigen Behut&#x017F;amkeit,<lb/>
und Be&#x017F;cheidenheit gegen den, an welchen man &#x017F;chreibt,<lb/>
ge&#x017F;chieht; &#x017F;o hat ein jeder &#x017F;olche Briefe lieber, als leere Um-<lb/>
&#x017F;chweife von unendlichen Wu&#x0364;n&#x017F;chen oder Wortgepra&#x0364;ngen,<lb/>
die in der That nichts heißen.</p><lb/>
          <p>Fraget man u&#x0364;berhaupt nach den a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlichen Eigen-<lb/>
&#x017F;chafften eines &#x017F;olchen Briefes; &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;es zu mercken,<lb/>
daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge-<lb/>
richtet i&#x017F;t: Es &#x017F;ey nun, daß es gleich in der er&#x017F;ten Zeile ge-<lb/>
&#x017F;chehe, oder doch bald hernach komme. So fa&#x0364;ngt Neu-<lb/>
kirch z. E. einmahl an.</p><lb/>
          <cit>
            <quote>Mein Ko&#x0364;nig, zu&#x0364;rne nicht, daß mich dein Glantz bewegt &#xA75B;c.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Die&#x017F;es i&#x017F;t, &#x017F;o zu reden, das eigentliche Merckmahl eines<lb/>
Briefes von die&#x017F;er Art; denn was i&#x017F;t ein Brief u&#x0364;berhaupt<lb/>
anders, als eine ge&#x017F;chriebene Anrede an einen Abwe&#x017F;enden?<lb/>
Jn der Mitte kan die&#x017F;elbe zuweilen wiederholt werden; doch<lb/>
ohne gro&#x017F;&#x017F;e Titel, die nur die Zeilen fu&#x0364;llen und nichts &#x017F;agen.<lb/><hi rendition="#fr">Großma&#x0364;chtig&#x017F;ter Monarch,</hi> heißt nichts mehr als <hi rendition="#fr">Ko&#x0364;-<lb/>
nig:</hi> und <hi rendition="#fr">Durchlauchter Fu&#x0364;r&#x017F;t und Herr,</hi> bedeutet nur<lb/>
eben &#x017F;o viel als: <hi rendition="#fr">mein Printz, mein Herzog,</hi> oder &#x017F;chlecht<lb/>
weg, <hi rendition="#fr">Herr.</hi> Doch wolte ich bey die&#x017F;em letztern. Worte<lb/>
rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver-<lb/>
&#x017F;chwenden: ge&#x017F;chweige denn, bey bu&#x0364;rgerlichen Per&#x017F;onen zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 4</fw><fw place="bottom" type="catch">brau-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[439/0467] Von poetiſchen Sendſchreiben. kirch an Friedrich den Weiſen, und Guͤnther an den Koͤnig Auguſt die ſchaͤrfſten Stellen mit einflieſſen laſſen. Die- ſer letztere bedient ſich einmahl der Worte: Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren ſchonen kan, Jch greife ſie ſo gar vor deinen Augen an ꝛc. Und in des Boileau Briefe an den Frantzoͤſiſchen Koͤnig ſteht unter andern folgende Stelle: Grand Roi, c’ eſt mon defaut, je neſaurois flatter, Je ne ſai point au Ciel placer un ridicule. D’un Nain faire un Atlas, ou d’ un Lache un Hercule. Die Art von Briefen nun laͤßt ſich bey allerley Gelegen- heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, uͤber die Sitten der Menſchen ſeine Gedancken auszuſchuͤtten? Wenn auch ſolches nur mit der gehoͤrigen Behutſamkeit, und Beſcheidenheit gegen den, an welchen man ſchreibt, geſchieht; ſo hat ein jeder ſolche Briefe lieber, als leere Um- ſchweife von unendlichen Wuͤnſchen oder Wortgepraͤngen, die in der That nichts heißen. Fraget man uͤberhaupt nach den aͤuſſerlichen Eigen- ſchafften eines ſolchen Briefes; ſo iſt dieſes zu mercken, daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge- richtet iſt: Es ſey nun, daß es gleich in der erſten Zeile ge- ſchehe, oder doch bald hernach komme. So faͤngt Neu- kirch z. E. einmahl an. Mein Koͤnig, zuͤrne nicht, daß mich dein Glantz bewegt ꝛc. Dieſes iſt, ſo zu reden, das eigentliche Merckmahl eines Briefes von dieſer Art; denn was iſt ein Brief uͤberhaupt anders, als eine geſchriebene Anrede an einen Abweſenden? Jn der Mitte kan dieſelbe zuweilen wiederholt werden; doch ohne groſſe Titel, die nur die Zeilen fuͤllen und nichts ſagen. Großmaͤchtigſter Monarch, heißt nichts mehr als Koͤ- nig: und Durchlauchter Fuͤrſt und Herr, bedeutet nur eben ſo viel als: mein Printz, mein Herzog, oder ſchlecht weg, Herr. Doch wolte ich bey dieſem letztern. Worte rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver- ſchwenden: geſchweige denn, bey buͤrgerlichen Perſonen zu brau- E e 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/467
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/467>, abgerufen am 30.04.2024.