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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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stellt werden; denn wer etwa einen geistvollen Roman geschrieben hat, ge-
nießt bei weitem keine so zweifellose Anerkennung, wie Uhland oder Frei-
ligrath. So war es schon vor sechszig Jahren, als man Gleim mit Ana-
kreon, Geßner mit Theokrit, die Karschin mit Sappho verglich und nun¬
mehr ihren Ruhm für Aeonen gesichert glaubte. Gegen diese Vergötterung
trat am schärfsten Herder auf, und sprach damals die denkwürdigen
Worte: "Warum will man der lebenden Welt das Urtheil verbieten, da
die Nachwelt desto schärfer richten wird?" Von den Zeitgenossen wurde
er angefeindet, heutzutage erscheint er gerechtfertigt. Wir fürchten, daß in
Einzelheiten unsere Nachkommen ein ähnliches Gericht halten werden; so
z. B. ist in vielen Gedichten des mit Recht gerühmten Anastasius Grün
ein sehr nachläßiger Versbau und eine Geschwätzigkeit der Reflexion, die
demselben keine lange Dauer verspricht. Die Halleschen Jahrbücher sind
in Beziehung auf Rückert allerdings zu weit gegangen; doch muß man
in dieser, wie in den meisten Beziehungen ihren Muth und jene Energie
rühmen, welche unserer Literatur vieles Heil bringen können. Bei der
neuen Auswahl von Rückerts Gedichten hat sich gezeigt, wie das größere
Publikum über ihn denkt; denn wenn auch seine Poesie sich nicht leicht auf's
hohe Meer wagt, wenn auch aus seinen Jugendgedichten, die völlig ohne
Sturm und Drang sind, leicht zu ermessen steht, daß er vorzugsweise ein
Sprachgenie ist, das seine Production von der Nachahmung ausgeht, so weht
doch überall ein milder Hauch der Weisheit, der Versöhnung, was frommen
(nicht bigotten) Gemüthern und Frauen besonders zusagt.

Es bleibt uns noch die Ueberzeugung auszusprechen, daß unsere stolze,
volltönige Tendenzpoesie nicht so lange leben wird, als die einfachen, in Ge¬
halt und Melodie innerlich vollendeten Gemüthsklänge, die wir z. B. in der
von Lenau, um Einen statt Vieler zu nennen, zerstreut finden.



stellt werden; denn wer etwa einen geistvollen Roman geschrieben hat, ge-
nießt bei weitem keine so zweifellose Anerkennung, wie Uhland oder Frei-
ligrath. So war es schon vor sechszig Jahren, als man Gleim mit Ana-
kreon, Geßner mit Theokrit, die Karschin mit Sappho verglich und nun¬
mehr ihren Ruhm für Aeonen gesichert glaubte. Gegen diese Vergötterung
trat am schärfsten Herder auf, und sprach damals die denkwürdigen
Worte: „Warum will man der lebenden Welt das Urtheil verbieten, da
die Nachwelt desto schärfer richten wird?“ Von den Zeitgenossen wurde
er angefeindet, heutzutage erscheint er gerechtfertigt. Wir fürchten, daß in
Einzelheiten unsere Nachkommen ein ähnliches Gericht halten werden; so
z. B. ist in vielen Gedichten des mit Recht gerühmten Anastasius Grün
ein sehr nachläßiger Versbau und eine Geschwätzigkeit der Reflexion, die
demselben keine lange Dauer verspricht. Die Halleschen Jahrbücher sind
in Beziehung auf Rückert allerdings zu weit gegangen; doch muß man
in dieser, wie in den meisten Beziehungen ihren Muth und jene Energie
rühmen, welche unserer Literatur vieles Heil bringen können. Bei der
neuen Auswahl von Rückerts Gedichten hat sich gezeigt, wie das größere
Publikum über ihn denkt; denn wenn auch seine Poesie sich nicht leicht auf's
hohe Meer wagt, wenn auch aus seinen Jugendgedichten, die völlig ohne
Sturm und Drang sind, leicht zu ermessen steht, daß er vorzugsweise ein
Sprachgenie ist, das seine Production von der Nachahmung ausgeht, so weht
doch überall ein milder Hauch der Weisheit, der Versöhnung, was frommen
(nicht bigotten) Gemüthern und Frauen besonders zusagt.

Es bleibt uns noch die Ueberzeugung auszusprechen, daß unsere stolze,
volltönige Tendenzpoesie nicht so lange leben wird, als die einfachen, in Ge¬
halt und Melodie innerlich vollendeten Gemüthsklänge, die wir z. B. in der
von Lenau, um Einen statt Vieler zu nennen, zerstreut finden.



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[161/0169] stellt werden; denn wer etwa einen geistvollen Roman geschrieben hat, ge- nießt bei weitem keine so zweifellose Anerkennung, wie Uhland oder Frei- ligrath. So war es schon vor sechszig Jahren, als man Gleim mit Ana- kreon, Geßner mit Theokrit, die Karschin mit Sappho verglich und nun¬ mehr ihren Ruhm für Aeonen gesichert glaubte. Gegen diese Vergötterung trat am schärfsten Herder auf, und sprach damals die denkwürdigen Worte: „Warum will man der lebenden Welt das Urtheil verbieten, da die Nachwelt desto schärfer richten wird?“ Von den Zeitgenossen wurde er angefeindet, heutzutage erscheint er gerechtfertigt. Wir fürchten, daß in Einzelheiten unsere Nachkommen ein ähnliches Gericht halten werden; so z. B. ist in vielen Gedichten des mit Recht gerühmten Anastasius Grün ein sehr nachläßiger Versbau und eine Geschwätzigkeit der Reflexion, die demselben keine lange Dauer verspricht. Die Halleschen Jahrbücher sind in Beziehung auf Rückert allerdings zu weit gegangen; doch muß man in dieser, wie in den meisten Beziehungen ihren Muth und jene Energie rühmen, welche unserer Literatur vieles Heil bringen können. Bei der neuen Auswahl von Rückerts Gedichten hat sich gezeigt, wie das größere Publikum über ihn denkt; denn wenn auch seine Poesie sich nicht leicht auf's hohe Meer wagt, wenn auch aus seinen Jugendgedichten, die völlig ohne Sturm und Drang sind, leicht zu ermessen steht, daß er vorzugsweise ein Sprachgenie ist, das seine Production von der Nachahmung ausgeht, so weht doch überall ein milder Hauch der Weisheit, der Versöhnung, was frommen (nicht bigotten) Gemüthern und Frauen besonders zusagt. Es bleibt uns noch die Ueberzeugung auszusprechen, daß unsere stolze, volltönige Tendenzpoesie nicht so lange leben wird, als die einfachen, in Ge¬ halt und Melodie innerlich vollendeten Gemüthsklänge, die wir z. B. in der von Lenau, um Einen statt Vieler zu nennen, zerstreut finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/169>, abgerufen am 29.04.2024.