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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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nem Großvater und meinem Vater noch eine Uebergangsperson fehle und ich
-- um einen irischen Bull zu machen --> eigentlich der Urenkel und nicht der
Enkel meines Großvaters sein sollte. Mit derselben Logik sagt man uns in's
Gesicht, wir wären für unsere Zeit zu human, zu aufgeklärt, zu reif, das
könne nicht mit natürlichen Dingen zugegangen sein, und wir sollten daher
noch einmal vergessen, was wir wissen, und werden, was wir gewesen sind.
Doch lassen wir die Doctrinairc. -- Das Jahr 1842 war bis jetzt sehr creig-
nißvoll. Abgesehen von den Welthändeln, bei denen Leipzig Zuschauer im
ersten Rang ist -- von den Feuersbrünsten und Erdbeben, Revolutionen
und Verschwörungen -- haben sich auch hier mannichfache Erscheinungen ge¬
jagt, so daß mein Bericht nur ein kurzes, unvollständiges Resümv sein wird.
Sie haben gewiß von den Erfolgen gehört, die Halm's "Sohn der Wild¬
niß" auf den meisten deutschen Bühnen hatte, obgleich die Kritik fast in ganz
Deutschland den Stab über dieses Drama gebrochen hat. Ich glaube, die
Kritik ist zu weit gegangen. Halm ist mehr als irgend ein östreichischer Poet
Vertreter der modernen Wiener Bildung; von diesem Gesichtspunkt aus hat
man den "Sohn der Wildniß" zu betrachten. Es ist wahr, dieser Ingomar ist
kein Sohn der Wildniß, so wenig wie Massilia eine griechische Pflanzstadt und
Parthenia ein Ausdruck griechischer Cultur ist. Das Thun dieser Helden und
Heldinnen steht im geraden Widerspruch mit ihren Reden. Ingomar ist ein
Wiener Stutzer, der den Wilden spielt; denn ein wahrhafter Mann und Na¬
turmensch würde selbst einer Iphigenia Ehrfurcht einflößen, wo sie ihn nicht
lieben kann, keinesfalls aber mit sich spielen lassen, ihr wie ein Galanthom sich
zu Füßen setzen und -- ich möchte sagen -- Hut und Shawl halten. Parthenia
ist ein liebes Wiener Putzmachermädchen, welches fleißig das Burgtheater be¬
sucht hat, und weiß, wie man sich einen Liebhaber erzieht. Die durchschnitt¬
liche Wiener Bildung verwechselt noch gern Liebe mit Galanterie, Cultur mit
Artigkeit und 'hat überhaupt von vielen Dingen, z. B- von Naturfreiheit,
Heidenthum u. s. w. gerade solche Vorstellungen, wie ein Kind von den Herr¬
lichkeiten, die es in seiner Bilderfibel abgemalt sieht. Und doch möchte man
so gern auch einmal frei, naturwüchsig, Sturm- und drangvoll sein! Wie rüh¬
rend ist nun das Bemühn, alle diese Begeisterungen, Leidenschaften und Tugen¬
den, die man dem Namen nach kennt, aber nie in sich gefühlt hat, anzunehmen!
Wie rührend diese Armuth, die sich durch äußerliches Anklammern an gewisse
stereotype, gleichsam aus den Lehrbüchern zusammengeholte Phrasen helfen
will! Myron erklärt dem Sohn der Wildniß die Civilisation: "Wir sind ein
^ekel bauend Volk!" Parthenia definirt dem Wilden, ich glaube nach Bouter-


nem Großvater und meinem Vater noch eine Uebergangsperson fehle und ich
— um einen irischen Bull zu machen —> eigentlich der Urenkel und nicht der
Enkel meines Großvaters sein sollte. Mit derselben Logik sagt man uns in's
Gesicht, wir wären für unsere Zeit zu human, zu aufgeklärt, zu reif, das
könne nicht mit natürlichen Dingen zugegangen sein, und wir sollten daher
noch einmal vergessen, was wir wissen, und werden, was wir gewesen sind.
Doch lassen wir die Doctrinairc. — Das Jahr 1842 war bis jetzt sehr creig-
nißvoll. Abgesehen von den Welthändeln, bei denen Leipzig Zuschauer im
ersten Rang ist — von den Feuersbrünsten und Erdbeben, Revolutionen
und Verschwörungen — haben sich auch hier mannichfache Erscheinungen ge¬
jagt, so daß mein Bericht nur ein kurzes, unvollständiges Resümv sein wird.
Sie haben gewiß von den Erfolgen gehört, die Halm's „Sohn der Wild¬
niß" auf den meisten deutschen Bühnen hatte, obgleich die Kritik fast in ganz
Deutschland den Stab über dieses Drama gebrochen hat. Ich glaube, die
Kritik ist zu weit gegangen. Halm ist mehr als irgend ein östreichischer Poet
Vertreter der modernen Wiener Bildung; von diesem Gesichtspunkt aus hat
man den „Sohn der Wildniß" zu betrachten. Es ist wahr, dieser Ingomar ist
kein Sohn der Wildniß, so wenig wie Massilia eine griechische Pflanzstadt und
Parthenia ein Ausdruck griechischer Cultur ist. Das Thun dieser Helden und
Heldinnen steht im geraden Widerspruch mit ihren Reden. Ingomar ist ein
Wiener Stutzer, der den Wilden spielt; denn ein wahrhafter Mann und Na¬
turmensch würde selbst einer Iphigenia Ehrfurcht einflößen, wo sie ihn nicht
lieben kann, keinesfalls aber mit sich spielen lassen, ihr wie ein Galanthom sich
zu Füßen setzen und — ich möchte sagen — Hut und Shawl halten. Parthenia
ist ein liebes Wiener Putzmachermädchen, welches fleißig das Burgtheater be¬
sucht hat, und weiß, wie man sich einen Liebhaber erzieht. Die durchschnitt¬
liche Wiener Bildung verwechselt noch gern Liebe mit Galanterie, Cultur mit
Artigkeit und 'hat überhaupt von vielen Dingen, z. B- von Naturfreiheit,
Heidenthum u. s. w. gerade solche Vorstellungen, wie ein Kind von den Herr¬
lichkeiten, die es in seiner Bilderfibel abgemalt sieht. Und doch möchte man
so gern auch einmal frei, naturwüchsig, Sturm- und drangvoll sein! Wie rüh¬
rend ist nun das Bemühn, alle diese Begeisterungen, Leidenschaften und Tugen¬
den, die man dem Namen nach kennt, aber nie in sich gefühlt hat, anzunehmen!
Wie rührend diese Armuth, die sich durch äußerliches Anklammern an gewisse
stereotype, gleichsam aus den Lehrbüchern zusammengeholte Phrasen helfen
will! Myron erklärt dem Sohn der Wildniß die Civilisation: „Wir sind ein
^ekel bauend Volk!" Parthenia definirt dem Wilden, ich glaube nach Bouter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/246>, abgerufen am 22.05.2024.