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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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die volle Last der Verantwortlichkeit immer mehr auf den Schrift¬
steller selbst. In der deutschen Presse hat aber bis jetzt eine ganz
sonderbare Abnormität stattgefunden. Gewisse Gebiete und Personen
wurden durch siebenfache Mauern gegen jedes strenge Urtheil ver¬
wahrt, während Andere, wie Schauspieler, Schriftsteller, Franzosen,
Juden der allgemeinen Polemik als öffentliches Gut preisgegeben
waren. So stürzte sich die ganze Heftigkeit des Journalismus nach
einer Seite hin und unsere Polemik artete nach einer Richtung bis
zur rohesten Rücksichtslosigkeit aus, während sie nach der andern
stumpf und unbeholfen blieb. In der Uebergangsepoche, in welcher
unser Journalismus sich jetzt offenbar befindet, und in dem Maße,
basi immer wichtigere Gegenstände und Personen in sein Gebiet ge¬
zogen werden, wird auch eine gleichmäßigere Entwicklung ihrer Aus"
drucksweise, eine edlere Stimmung ihres Tones, eine höhere Reinigung
ihrer Form wünschenswert!).^

In diesem Punkte kann die Tagespresse von der Gesellschaft
nur empfangen. Wir verstehen natürlich nicht unter Gesellschaft die
bornirten Gränzen der Salonwelt, sondern die ganze große Welt der
Gebildeten. Man hat ein Recht, solche Ansprüche an die deutsche
Presse zu machen, eben weil sie am spätesten zur Entwicklung kam,
weil sie den längsten Weg gemacht hat und die meisten Ersahrun¬
gen gesammelt haben kann. Ohne das gleißnerische, spitzfindige
Raffinement der Franzosen, ohne die ungeschlachte, egoistische Plump¬
heit der Engländer, spiegele sie den deutschen Charakter im Worte
wieder, in humaner Geradheit und in züchtiger Gefälligkeit. Sie
scheue keine Wahrheit, aber sie sei nicht grausam, und was keinem
von unsern beiden Nachbarn gelang, daS gelinge ihr, die Sache
von der Person zu trennen.

Wo endet aber die Sache und wo beginnt die Person? DaS Wort
Persönlichkeit ist in der letzten Zeit eine Vogelscheuche geworden,
gerade so wie im vorigen Jahrzehend das Wort "Demagog" eS war.
Jeder männliche Freimuth wurde mit dem Schreckwort Demagogie
bezeichnet, so wie jetzt hinter dem Worte Persönlichkeit jede von
einem strengen Urtheil gekränkte Eitelkeit hilferufend sich verkriecht.
Der bessere Ton, den wir unserer Journalistik wünschen, soll den
Freimuth ihres Urtheils nicht hemmen; diesen wollen wir vor Allem


die volle Last der Verantwortlichkeit immer mehr auf den Schrift¬
steller selbst. In der deutschen Presse hat aber bis jetzt eine ganz
sonderbare Abnormität stattgefunden. Gewisse Gebiete und Personen
wurden durch siebenfache Mauern gegen jedes strenge Urtheil ver¬
wahrt, während Andere, wie Schauspieler, Schriftsteller, Franzosen,
Juden der allgemeinen Polemik als öffentliches Gut preisgegeben
waren. So stürzte sich die ganze Heftigkeit des Journalismus nach
einer Seite hin und unsere Polemik artete nach einer Richtung bis
zur rohesten Rücksichtslosigkeit aus, während sie nach der andern
stumpf und unbeholfen blieb. In der Uebergangsepoche, in welcher
unser Journalismus sich jetzt offenbar befindet, und in dem Maße,
basi immer wichtigere Gegenstände und Personen in sein Gebiet ge¬
zogen werden, wird auch eine gleichmäßigere Entwicklung ihrer Aus»
drucksweise, eine edlere Stimmung ihres Tones, eine höhere Reinigung
ihrer Form wünschenswert!).^

In diesem Punkte kann die Tagespresse von der Gesellschaft
nur empfangen. Wir verstehen natürlich nicht unter Gesellschaft die
bornirten Gränzen der Salonwelt, sondern die ganze große Welt der
Gebildeten. Man hat ein Recht, solche Ansprüche an die deutsche
Presse zu machen, eben weil sie am spätesten zur Entwicklung kam,
weil sie den längsten Weg gemacht hat und die meisten Ersahrun¬
gen gesammelt haben kann. Ohne das gleißnerische, spitzfindige
Raffinement der Franzosen, ohne die ungeschlachte, egoistische Plump¬
heit der Engländer, spiegele sie den deutschen Charakter im Worte
wieder, in humaner Geradheit und in züchtiger Gefälligkeit. Sie
scheue keine Wahrheit, aber sie sei nicht grausam, und was keinem
von unsern beiden Nachbarn gelang, daS gelinge ihr, die Sache
von der Person zu trennen.

Wo endet aber die Sache und wo beginnt die Person? DaS Wort
Persönlichkeit ist in der letzten Zeit eine Vogelscheuche geworden,
gerade so wie im vorigen Jahrzehend das Wort „Demagog" eS war.
Jeder männliche Freimuth wurde mit dem Schreckwort Demagogie
bezeichnet, so wie jetzt hinter dem Worte Persönlichkeit jede von
einem strengen Urtheil gekränkte Eitelkeit hilferufend sich verkriecht.
Der bessere Ton, den wir unserer Journalistik wünschen, soll den
Freimuth ihres Urtheils nicht hemmen; diesen wollen wir vor Allem


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[0039] die volle Last der Verantwortlichkeit immer mehr auf den Schrift¬ steller selbst. In der deutschen Presse hat aber bis jetzt eine ganz sonderbare Abnormität stattgefunden. Gewisse Gebiete und Personen wurden durch siebenfache Mauern gegen jedes strenge Urtheil ver¬ wahrt, während Andere, wie Schauspieler, Schriftsteller, Franzosen, Juden der allgemeinen Polemik als öffentliches Gut preisgegeben waren. So stürzte sich die ganze Heftigkeit des Journalismus nach einer Seite hin und unsere Polemik artete nach einer Richtung bis zur rohesten Rücksichtslosigkeit aus, während sie nach der andern stumpf und unbeholfen blieb. In der Uebergangsepoche, in welcher unser Journalismus sich jetzt offenbar befindet, und in dem Maße, basi immer wichtigere Gegenstände und Personen in sein Gebiet ge¬ zogen werden, wird auch eine gleichmäßigere Entwicklung ihrer Aus» drucksweise, eine edlere Stimmung ihres Tones, eine höhere Reinigung ihrer Form wünschenswert!).^ In diesem Punkte kann die Tagespresse von der Gesellschaft nur empfangen. Wir verstehen natürlich nicht unter Gesellschaft die bornirten Gränzen der Salonwelt, sondern die ganze große Welt der Gebildeten. Man hat ein Recht, solche Ansprüche an die deutsche Presse zu machen, eben weil sie am spätesten zur Entwicklung kam, weil sie den längsten Weg gemacht hat und die meisten Ersahrun¬ gen gesammelt haben kann. Ohne das gleißnerische, spitzfindige Raffinement der Franzosen, ohne die ungeschlachte, egoistische Plump¬ heit der Engländer, spiegele sie den deutschen Charakter im Worte wieder, in humaner Geradheit und in züchtiger Gefälligkeit. Sie scheue keine Wahrheit, aber sie sei nicht grausam, und was keinem von unsern beiden Nachbarn gelang, daS gelinge ihr, die Sache von der Person zu trennen. Wo endet aber die Sache und wo beginnt die Person? DaS Wort Persönlichkeit ist in der letzten Zeit eine Vogelscheuche geworden, gerade so wie im vorigen Jahrzehend das Wort „Demagog" eS war. Jeder männliche Freimuth wurde mit dem Schreckwort Demagogie bezeichnet, so wie jetzt hinter dem Worte Persönlichkeit jede von einem strengen Urtheil gekränkte Eitelkeit hilferufend sich verkriecht. Der bessere Ton, den wir unserer Journalistik wünschen, soll den Freimuth ihres Urtheils nicht hemmen; diesen wollen wir vor Allem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/39>, abgerufen am 22.05.2024.