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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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der Welt, und Alle.^jubeln ihm entgegen; sie freuen sich wie die Stummen, die um
ein Geheimniß.wußten, und jetzt, von einem Blitze des Genies getroffen, plötzlich
Sprache bekommen. .Ein solcher Dichter ist zugleich, ohne daß er es will, zeitge-
mäß, und da er als ein wahrer Dichter das Reinmenschliche mit darstellt, ist er
doppelt unvergänglich, als Spiegel seiner Zeit, als Prophet des Herzens.

Unsere deutsche Literatur von Lessing bis Tieck ist eine solche sublimirte Idee
aus dem Materiale, welches das 16. Jahrhundert lieferte. Der gothische, gewal¬
tige. Phantastische Dom unserer Literatur ist fertig gebaut, und den Modernen
bleibt nichts übrig, als in die einzelnen noch leer gebliebenen Nischen, wie am sil¬
bernen Dom zu Mailand, einzelne. Gestalten zu stellen, da und dort eine Säule
zu Pflanzen,, die aber schon angedeutet war; es fehlt unsern Dichtern ein neues
Element, neuer Teig, aus dem sie Gestalten kneten möchten. Die welthistorischen
Begebenheiten, die aus dem vorigen in unser Jahrhundert herübertagen, werden
ein solches Element werden. So wie die Phantasie überhaupt (man denke an die
des Orients) schwächer zu werden scheint, so breiter macht sich der Strom der
allgemeinen Bildung, und wir haben, ich möchte sagen, eine nur durch Bildung
vermittelte Poesie; das urkräftige, naive Schaffen ist ausgestorben, wenigstens für
die Gegenwart. Dies ist nun vielen Poeten klar, viele fühlen das instinktmäßig,
es schwimmt wie ein Contagium in der Luft. Die Ersteren wissen, was zu leisten
ist und wie, aber ihre Bildung hindert sie. Ihnen fehlt der Stoff; eigentlich ist
dieser da, aber er ist noch nicht reif für sie; eS wird eine Zeit kommen, wo er
dies sein wird, alldieß wissen sie, sie sehen ahnungsergriffen das goldene Saatfeld
des Gedankens in der Zukunft wogen, dazwischen die rothen und blauen Blumen
der Poesie, aber sie können den künftigen Geisterlcnz nicht früher blühen machen,
sie wissen auch, daß sie sammt ihren Kräften, mit der ganzen Begeisterung ihrer
Seele nichts Ewiges schaffen., Dieß ist kein Weltschmerz, aber gewiß ein Schmerz,
ganz geeignet ein unfreudiges Produziren zu veranlassen, und Schatten auf ihre
Strebebahn, auf. ihre Stimmung zu werfen, welchen dann ihre Schöpfungen nicht
entgehen. Was ist je gelungen, was man mit Verzweiflung begann?

Die Dichter. Deutschlands (nur diese hatte ich im Auge) könnten alle mit
Schiller ausrufen: "Wir geben unser letztes Hemd für einen neuen Stoff"

Noch sprach ich nicht von dem großen Verluste, den die deutsche Literatur
durch den Tod Immermanns erfahren hat. Er gehörte, wenn die Zerrissenheit
als die Krankheit der modernen.Poeten bezeichnet wird, zu den Gesunden. Er
War markig in Leben und Dichtung., Er war einer von den Geistern, die für alle
Zeiten in der ersten Reihe, stehen möchten, wenn ihn nicht das oben ausgesprochene
Bewußtsein beherrscht hätte, wenn er ein.neues Element zu entdecken so klar, so
glücklich gewesen wäre.


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der Welt, und Alle.^jubeln ihm entgegen; sie freuen sich wie die Stummen, die um
ein Geheimniß.wußten, und jetzt, von einem Blitze des Genies getroffen, plötzlich
Sprache bekommen. .Ein solcher Dichter ist zugleich, ohne daß er es will, zeitge-
mäß, und da er als ein wahrer Dichter das Reinmenschliche mit darstellt, ist er
doppelt unvergänglich, als Spiegel seiner Zeit, als Prophet des Herzens.

Unsere deutsche Literatur von Lessing bis Tieck ist eine solche sublimirte Idee
aus dem Materiale, welches das 16. Jahrhundert lieferte. Der gothische, gewal¬
tige. Phantastische Dom unserer Literatur ist fertig gebaut, und den Modernen
bleibt nichts übrig, als in die einzelnen noch leer gebliebenen Nischen, wie am sil¬
bernen Dom zu Mailand, einzelne. Gestalten zu stellen, da und dort eine Säule
zu Pflanzen,, die aber schon angedeutet war; es fehlt unsern Dichtern ein neues
Element, neuer Teig, aus dem sie Gestalten kneten möchten. Die welthistorischen
Begebenheiten, die aus dem vorigen in unser Jahrhundert herübertagen, werden
ein solches Element werden. So wie die Phantasie überhaupt (man denke an die
des Orients) schwächer zu werden scheint, so breiter macht sich der Strom der
allgemeinen Bildung, und wir haben, ich möchte sagen, eine nur durch Bildung
vermittelte Poesie; das urkräftige, naive Schaffen ist ausgestorben, wenigstens für
die Gegenwart. Dies ist nun vielen Poeten klar, viele fühlen das instinktmäßig,
es schwimmt wie ein Contagium in der Luft. Die Ersteren wissen, was zu leisten
ist und wie, aber ihre Bildung hindert sie. Ihnen fehlt der Stoff; eigentlich ist
dieser da, aber er ist noch nicht reif für sie; eS wird eine Zeit kommen, wo er
dies sein wird, alldieß wissen sie, sie sehen ahnungsergriffen das goldene Saatfeld
des Gedankens in der Zukunft wogen, dazwischen die rothen und blauen Blumen
der Poesie, aber sie können den künftigen Geisterlcnz nicht früher blühen machen,
sie wissen auch, daß sie sammt ihren Kräften, mit der ganzen Begeisterung ihrer
Seele nichts Ewiges schaffen., Dieß ist kein Weltschmerz, aber gewiß ein Schmerz,
ganz geeignet ein unfreudiges Produziren zu veranlassen, und Schatten auf ihre
Strebebahn, auf. ihre Stimmung zu werfen, welchen dann ihre Schöpfungen nicht
entgehen. Was ist je gelungen, was man mit Verzweiflung begann?

Die Dichter. Deutschlands (nur diese hatte ich im Auge) könnten alle mit
Schiller ausrufen: „Wir geben unser letztes Hemd für einen neuen Stoff"

Noch sprach ich nicht von dem großen Verluste, den die deutsche Literatur
durch den Tod Immermanns erfahren hat. Er gehörte, wenn die Zerrissenheit
als die Krankheit der modernen.Poeten bezeichnet wird, zu den Gesunden. Er
War markig in Leben und Dichtung., Er war einer von den Geistern, die für alle
Zeiten in der ersten Reihe, stehen möchten, wenn ihn nicht das oben ausgesprochene
Bewußtsein beherrscht hätte, wenn er ein.neues Element zu entdecken so klar, so
glücklich gewesen wäre.


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[0579] der Welt, und Alle.^jubeln ihm entgegen; sie freuen sich wie die Stummen, die um ein Geheimniß.wußten, und jetzt, von einem Blitze des Genies getroffen, plötzlich Sprache bekommen. .Ein solcher Dichter ist zugleich, ohne daß er es will, zeitge- mäß, und da er als ein wahrer Dichter das Reinmenschliche mit darstellt, ist er doppelt unvergänglich, als Spiegel seiner Zeit, als Prophet des Herzens. Unsere deutsche Literatur von Lessing bis Tieck ist eine solche sublimirte Idee aus dem Materiale, welches das 16. Jahrhundert lieferte. Der gothische, gewal¬ tige. Phantastische Dom unserer Literatur ist fertig gebaut, und den Modernen bleibt nichts übrig, als in die einzelnen noch leer gebliebenen Nischen, wie am sil¬ bernen Dom zu Mailand, einzelne. Gestalten zu stellen, da und dort eine Säule zu Pflanzen,, die aber schon angedeutet war; es fehlt unsern Dichtern ein neues Element, neuer Teig, aus dem sie Gestalten kneten möchten. Die welthistorischen Begebenheiten, die aus dem vorigen in unser Jahrhundert herübertagen, werden ein solches Element werden. So wie die Phantasie überhaupt (man denke an die des Orients) schwächer zu werden scheint, so breiter macht sich der Strom der allgemeinen Bildung, und wir haben, ich möchte sagen, eine nur durch Bildung vermittelte Poesie; das urkräftige, naive Schaffen ist ausgestorben, wenigstens für die Gegenwart. Dies ist nun vielen Poeten klar, viele fühlen das instinktmäßig, es schwimmt wie ein Contagium in der Luft. Die Ersteren wissen, was zu leisten ist und wie, aber ihre Bildung hindert sie. Ihnen fehlt der Stoff; eigentlich ist dieser da, aber er ist noch nicht reif für sie; eS wird eine Zeit kommen, wo er dies sein wird, alldieß wissen sie, sie sehen ahnungsergriffen das goldene Saatfeld des Gedankens in der Zukunft wogen, dazwischen die rothen und blauen Blumen der Poesie, aber sie können den künftigen Geisterlcnz nicht früher blühen machen, sie wissen auch, daß sie sammt ihren Kräften, mit der ganzen Begeisterung ihrer Seele nichts Ewiges schaffen., Dieß ist kein Weltschmerz, aber gewiß ein Schmerz, ganz geeignet ein unfreudiges Produziren zu veranlassen, und Schatten auf ihre Strebebahn, auf. ihre Stimmung zu werfen, welchen dann ihre Schöpfungen nicht entgehen. Was ist je gelungen, was man mit Verzweiflung begann? Die Dichter. Deutschlands (nur diese hatte ich im Auge) könnten alle mit Schiller ausrufen: „Wir geben unser letztes Hemd für einen neuen Stoff" Noch sprach ich nicht von dem großen Verluste, den die deutsche Literatur durch den Tod Immermanns erfahren hat. Er gehörte, wenn die Zerrissenheit als die Krankheit der modernen.Poeten bezeichnet wird, zu den Gesunden. Er War markig in Leben und Dichtung., Er war einer von den Geistern, die für alle Zeiten in der ersten Reihe, stehen möchten, wenn ihn nicht das oben ausgesprochene Bewußtsein beherrscht hätte, wenn er ein.neues Element zu entdecken so klar, so glücklich gewesen wäre. 76"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/579>, abgerufen am 15.06.2024.