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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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für das Buch, sondern auch für jenes abenteuerlich-romantische Le¬
ben, aus dem es hervorgegangen ist. "Was ist gegen jenes roman-
tische Aroma, jenes mystisch-phantastische Dunkel, mit dem die Ver¬
hältnisse der französischen Hauptstadt umgeben sind, die nackte All¬
täglichkeit unseres prosaischen, glatten, abenteuerloscn Lebens, was
könnte aus ihm wohl ein Schriftsteller schöpfen, wie könnte es ihm
gar Stoff zu jenen mysteriösen Geschichten geben, deren Lectüre uns
so ergötzt und hinreißt? Sollte er erst Künstler genug sein, uns
ähnliche Gemälde vorzuführen, durch Aehnliches uns zu "amüsiren,"
unser Leben müßte uns ja in jedem Augenblick an die Lüge seines
Products erinnern." In all diesem Geschwätz nun, wie wir eS in
der letzten Zeit von den verschiedensten Seiten gehört haben, offenbart
sich eine Wahrheit, die gerade für unsere entgegengesetzte Behauptung
spricht, daß nämlich das ganze deutsche Leben, wie es, aller Oeffent-
lichkeit entbehrend, die noch zerstreuten Keime und Bedingungen sei¬
ner Entwickelung in seinem Innersten bergen muß, noch ein tief ver¬
flossenes Geheimniß, ja lauter Geheimniß ist. Man mißverstehe
uns nicht.- wir wollen hier nicht Politisiren, wir meinen auch nicht
etwa jene Geheimnisse, die in Sitzungen und Beratschlagungen über
das Wohl und Weh des Volks bei verschlossenen Thüren, oft in der
Stille der Nacht, im Cabinet des Ministers, im Bureau des Beam¬
ten vor sich gehen -- die Leute, die uns diese erzählen könnten, wer¬
den sie uns wohl nie erzählen -- wir sprechen nur von den Ge¬
heimnissen des täglichen socialen Lebens, wie sie auch bei uns schon,
besonders in den großen Hauptstädten, aber unberücksichtigt, uner¬
kannt, unergründet in allen Kreisen der Gesellschaft sich finden. Ja,
ja, meine Herrschaften, sehen Sie uns nicht so verwundert an, auch
sogar Berlin hat seine mysteriösen Seiten, hat außer jenen läppischen
Stadtklatschcreien, an denen Eure Neugier sich so reichlich ergötzen
und befriedigen kann, auch noch seine fast in undurchdringliches Dun¬
kel gehüllten, seine tiefen, ernsten Geheimnisse. Auf seiner Oberfläche
freilich, auf der Ihr Euch nur bewegt, merkt und ahnt man davon
Nichts, das sieht Alles so glänzend, so glatt, so reinlich, so ruhig und
friedlich aus, da ist Nichts als Vergnügen und Lurus, lauter Tanzen
und Singen, tief aber, und immer tiefer muß man in den Kern, in
daS innerste Herz dieses Lebens und Treibens dringen und wenn
man nur Augen hat und Interesse für menschliche Zustände, wird man


für das Buch, sondern auch für jenes abenteuerlich-romantische Le¬
ben, aus dem es hervorgegangen ist. „Was ist gegen jenes roman-
tische Aroma, jenes mystisch-phantastische Dunkel, mit dem die Ver¬
hältnisse der französischen Hauptstadt umgeben sind, die nackte All¬
täglichkeit unseres prosaischen, glatten, abenteuerloscn Lebens, was
könnte aus ihm wohl ein Schriftsteller schöpfen, wie könnte es ihm
gar Stoff zu jenen mysteriösen Geschichten geben, deren Lectüre uns
so ergötzt und hinreißt? Sollte er erst Künstler genug sein, uns
ähnliche Gemälde vorzuführen, durch Aehnliches uns zu „amüsiren,"
unser Leben müßte uns ja in jedem Augenblick an die Lüge seines
Products erinnern." In all diesem Geschwätz nun, wie wir eS in
der letzten Zeit von den verschiedensten Seiten gehört haben, offenbart
sich eine Wahrheit, die gerade für unsere entgegengesetzte Behauptung
spricht, daß nämlich das ganze deutsche Leben, wie es, aller Oeffent-
lichkeit entbehrend, die noch zerstreuten Keime und Bedingungen sei¬
ner Entwickelung in seinem Innersten bergen muß, noch ein tief ver¬
flossenes Geheimniß, ja lauter Geheimniß ist. Man mißverstehe
uns nicht.- wir wollen hier nicht Politisiren, wir meinen auch nicht
etwa jene Geheimnisse, die in Sitzungen und Beratschlagungen über
das Wohl und Weh des Volks bei verschlossenen Thüren, oft in der
Stille der Nacht, im Cabinet des Ministers, im Bureau des Beam¬
ten vor sich gehen — die Leute, die uns diese erzählen könnten, wer¬
den sie uns wohl nie erzählen — wir sprechen nur von den Ge¬
heimnissen des täglichen socialen Lebens, wie sie auch bei uns schon,
besonders in den großen Hauptstädten, aber unberücksichtigt, uner¬
kannt, unergründet in allen Kreisen der Gesellschaft sich finden. Ja,
ja, meine Herrschaften, sehen Sie uns nicht so verwundert an, auch
sogar Berlin hat seine mysteriösen Seiten, hat außer jenen läppischen
Stadtklatschcreien, an denen Eure Neugier sich so reichlich ergötzen
und befriedigen kann, auch noch seine fast in undurchdringliches Dun¬
kel gehüllten, seine tiefen, ernsten Geheimnisse. Auf seiner Oberfläche
freilich, auf der Ihr Euch nur bewegt, merkt und ahnt man davon
Nichts, das sieht Alles so glänzend, so glatt, so reinlich, so ruhig und
friedlich aus, da ist Nichts als Vergnügen und Lurus, lauter Tanzen
und Singen, tief aber, und immer tiefer muß man in den Kern, in
daS innerste Herz dieses Lebens und Treibens dringen und wenn
man nur Augen hat und Interesse für menschliche Zustände, wird man


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[0020] für das Buch, sondern auch für jenes abenteuerlich-romantische Le¬ ben, aus dem es hervorgegangen ist. „Was ist gegen jenes roman- tische Aroma, jenes mystisch-phantastische Dunkel, mit dem die Ver¬ hältnisse der französischen Hauptstadt umgeben sind, die nackte All¬ täglichkeit unseres prosaischen, glatten, abenteuerloscn Lebens, was könnte aus ihm wohl ein Schriftsteller schöpfen, wie könnte es ihm gar Stoff zu jenen mysteriösen Geschichten geben, deren Lectüre uns so ergötzt und hinreißt? Sollte er erst Künstler genug sein, uns ähnliche Gemälde vorzuführen, durch Aehnliches uns zu „amüsiren," unser Leben müßte uns ja in jedem Augenblick an die Lüge seines Products erinnern." In all diesem Geschwätz nun, wie wir eS in der letzten Zeit von den verschiedensten Seiten gehört haben, offenbart sich eine Wahrheit, die gerade für unsere entgegengesetzte Behauptung spricht, daß nämlich das ganze deutsche Leben, wie es, aller Oeffent- lichkeit entbehrend, die noch zerstreuten Keime und Bedingungen sei¬ ner Entwickelung in seinem Innersten bergen muß, noch ein tief ver¬ flossenes Geheimniß, ja lauter Geheimniß ist. Man mißverstehe uns nicht.- wir wollen hier nicht Politisiren, wir meinen auch nicht etwa jene Geheimnisse, die in Sitzungen und Beratschlagungen über das Wohl und Weh des Volks bei verschlossenen Thüren, oft in der Stille der Nacht, im Cabinet des Ministers, im Bureau des Beam¬ ten vor sich gehen — die Leute, die uns diese erzählen könnten, wer¬ den sie uns wohl nie erzählen — wir sprechen nur von den Ge¬ heimnissen des täglichen socialen Lebens, wie sie auch bei uns schon, besonders in den großen Hauptstädten, aber unberücksichtigt, uner¬ kannt, unergründet in allen Kreisen der Gesellschaft sich finden. Ja, ja, meine Herrschaften, sehen Sie uns nicht so verwundert an, auch sogar Berlin hat seine mysteriösen Seiten, hat außer jenen läppischen Stadtklatschcreien, an denen Eure Neugier sich so reichlich ergötzen und befriedigen kann, auch noch seine fast in undurchdringliches Dun¬ kel gehüllten, seine tiefen, ernsten Geheimnisse. Auf seiner Oberfläche freilich, auf der Ihr Euch nur bewegt, merkt und ahnt man davon Nichts, das sieht Alles so glänzend, so glatt, so reinlich, so ruhig und friedlich aus, da ist Nichts als Vergnügen und Lurus, lauter Tanzen und Singen, tief aber, und immer tiefer muß man in den Kern, in daS innerste Herz dieses Lebens und Treibens dringen und wenn man nur Augen hat und Interesse für menschliche Zustände, wird man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/20>, abgerufen am 19.05.2024.