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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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So eigensinnig ist aber die Nachwelt, daß, wenn ich den Ra-
uie" der Berühmtheit nenne, deren damaligen Ruf ich ohne Uebertrei¬
bung geschildert habe, der Leser mir in's Gesicht lachen wird. Wenn
ich ihm sage, daß ich von Fräulein Madeleine de Scudery spreche,
während ihres Lebens die Sappho des siebzehnten Jahrhunderts ge¬
nannt, von der Verfasserin des berühmten Bassa, des großen Cyrus,
der Clelia, deö Almahide u. s. w., wird er mir antworten, daß ihm
dieser Ruhm unbegreiflich sei, daß Cyrus und Cleopatra entsetzlich
langweilige Bücher seien, (was ich ihm gerne zugebe, selbst
wenn er sie nicht gelesen hat), und daß hier keine Achnlichkeit mit
Balzac vorhanden sei, worin ich ihm entschieden widersprechen muß.

Denn am Ende bestehen doch zwischen dem berühmtesten und
fruchtbarsten französischen Romanschriftsteller des siebenzehnten Jahr¬
hunderts und dem berühmtesten und fruchtbarsten des neunzehnten,
zwischen Fräulein von Scudery und Herrn von Balzac, zwei Punkte
der Aehnlichkeit! Das gleiche Fach, die gleiche Fruchtbarkeit, die
gleiche Berühmtheit. Aber, wird man mir einwenden, wie kann man
Meisterwerke mit einem Haufen langweiliger Productionen ver-
gleichen, die kein anderes Verdienst besitzen, als daS der großen An¬
zahl, und an Styl, Geist und Phantasie leer sind? Einen Augenblick,
lieber Leser, die Vorfahren der Franzosen, die Zeitgenossen Richelieu'S,
des Cardinals de Netz, der Madame de S^pigro und Pascal's
waren eben so gescheidt wie die Leute unserer Zeit; so dickleibig die
Werke des Fräulein von Scudery waren, erlebten doch mehrere der¬
selben drei Auflagen, und man muß sie lesen, um sich zu überzeugen,
daß ihnen weder Geist, noch Phantasie, noch Styl fehlt. Ihre Form
ist ziemlich dieselbe, wie die aller besseren Schriften jener Zeit, und
dennoch, ich gestehe es gerne, gehört Muth dazu, sich an ihre Lectüre
zu wagen: denn man könnte dabei sterben vor Langeweile. -- Woher
kommt das? Was mangelt Fräulein von Scudery, daß sie uns nicht
bezaubert, wie sie unsere Vorväter bezauberte? Fräulein von Scudery
konnte nicht schreiben, antworten mehrere Kritiker. Ihre Werke leben
nur durch den Styl. Diese Behauptung, welche, wie ich wiederho¬
len muß, schon den Thatsachen gegenüber falsch ist, ist selbst dem
Prinzip nach sehr zu bestreiten. Die Form verhindert uns nicht, die
Atlas und den Roman des Longus zu würdigen; die Form hat nicht
diese Werke Jahrhunderte überleben gemacht; und wenn Shakspeare,


So eigensinnig ist aber die Nachwelt, daß, wenn ich den Ra-
uie» der Berühmtheit nenne, deren damaligen Ruf ich ohne Uebertrei¬
bung geschildert habe, der Leser mir in's Gesicht lachen wird. Wenn
ich ihm sage, daß ich von Fräulein Madeleine de Scudery spreche,
während ihres Lebens die Sappho des siebzehnten Jahrhunderts ge¬
nannt, von der Verfasserin des berühmten Bassa, des großen Cyrus,
der Clelia, deö Almahide u. s. w., wird er mir antworten, daß ihm
dieser Ruhm unbegreiflich sei, daß Cyrus und Cleopatra entsetzlich
langweilige Bücher seien, (was ich ihm gerne zugebe, selbst
wenn er sie nicht gelesen hat), und daß hier keine Achnlichkeit mit
Balzac vorhanden sei, worin ich ihm entschieden widersprechen muß.

Denn am Ende bestehen doch zwischen dem berühmtesten und
fruchtbarsten französischen Romanschriftsteller des siebenzehnten Jahr¬
hunderts und dem berühmtesten und fruchtbarsten des neunzehnten,
zwischen Fräulein von Scudery und Herrn von Balzac, zwei Punkte
der Aehnlichkeit! Das gleiche Fach, die gleiche Fruchtbarkeit, die
gleiche Berühmtheit. Aber, wird man mir einwenden, wie kann man
Meisterwerke mit einem Haufen langweiliger Productionen ver-
gleichen, die kein anderes Verdienst besitzen, als daS der großen An¬
zahl, und an Styl, Geist und Phantasie leer sind? Einen Augenblick,
lieber Leser, die Vorfahren der Franzosen, die Zeitgenossen Richelieu'S,
des Cardinals de Netz, der Madame de S^pigro und Pascal's
waren eben so gescheidt wie die Leute unserer Zeit; so dickleibig die
Werke des Fräulein von Scudery waren, erlebten doch mehrere der¬
selben drei Auflagen, und man muß sie lesen, um sich zu überzeugen,
daß ihnen weder Geist, noch Phantasie, noch Styl fehlt. Ihre Form
ist ziemlich dieselbe, wie die aller besseren Schriften jener Zeit, und
dennoch, ich gestehe es gerne, gehört Muth dazu, sich an ihre Lectüre
zu wagen: denn man könnte dabei sterben vor Langeweile. — Woher
kommt das? Was mangelt Fräulein von Scudery, daß sie uns nicht
bezaubert, wie sie unsere Vorväter bezauberte? Fräulein von Scudery
konnte nicht schreiben, antworten mehrere Kritiker. Ihre Werke leben
nur durch den Styl. Diese Behauptung, welche, wie ich wiederho¬
len muß, schon den Thatsachen gegenüber falsch ist, ist selbst dem
Prinzip nach sehr zu bestreiten. Die Form verhindert uns nicht, die
Atlas und den Roman des Longus zu würdigen; die Form hat nicht
diese Werke Jahrhunderte überleben gemacht; und wenn Shakspeare,


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[0026] So eigensinnig ist aber die Nachwelt, daß, wenn ich den Ra- uie» der Berühmtheit nenne, deren damaligen Ruf ich ohne Uebertrei¬ bung geschildert habe, der Leser mir in's Gesicht lachen wird. Wenn ich ihm sage, daß ich von Fräulein Madeleine de Scudery spreche, während ihres Lebens die Sappho des siebzehnten Jahrhunderts ge¬ nannt, von der Verfasserin des berühmten Bassa, des großen Cyrus, der Clelia, deö Almahide u. s. w., wird er mir antworten, daß ihm dieser Ruhm unbegreiflich sei, daß Cyrus und Cleopatra entsetzlich langweilige Bücher seien, (was ich ihm gerne zugebe, selbst wenn er sie nicht gelesen hat), und daß hier keine Achnlichkeit mit Balzac vorhanden sei, worin ich ihm entschieden widersprechen muß. Denn am Ende bestehen doch zwischen dem berühmtesten und fruchtbarsten französischen Romanschriftsteller des siebenzehnten Jahr¬ hunderts und dem berühmtesten und fruchtbarsten des neunzehnten, zwischen Fräulein von Scudery und Herrn von Balzac, zwei Punkte der Aehnlichkeit! Das gleiche Fach, die gleiche Fruchtbarkeit, die gleiche Berühmtheit. Aber, wird man mir einwenden, wie kann man Meisterwerke mit einem Haufen langweiliger Productionen ver- gleichen, die kein anderes Verdienst besitzen, als daS der großen An¬ zahl, und an Styl, Geist und Phantasie leer sind? Einen Augenblick, lieber Leser, die Vorfahren der Franzosen, die Zeitgenossen Richelieu'S, des Cardinals de Netz, der Madame de S^pigro und Pascal's waren eben so gescheidt wie die Leute unserer Zeit; so dickleibig die Werke des Fräulein von Scudery waren, erlebten doch mehrere der¬ selben drei Auflagen, und man muß sie lesen, um sich zu überzeugen, daß ihnen weder Geist, noch Phantasie, noch Styl fehlt. Ihre Form ist ziemlich dieselbe, wie die aller besseren Schriften jener Zeit, und dennoch, ich gestehe es gerne, gehört Muth dazu, sich an ihre Lectüre zu wagen: denn man könnte dabei sterben vor Langeweile. — Woher kommt das? Was mangelt Fräulein von Scudery, daß sie uns nicht bezaubert, wie sie unsere Vorväter bezauberte? Fräulein von Scudery konnte nicht schreiben, antworten mehrere Kritiker. Ihre Werke leben nur durch den Styl. Diese Behauptung, welche, wie ich wiederho¬ len muß, schon den Thatsachen gegenüber falsch ist, ist selbst dem Prinzip nach sehr zu bestreiten. Die Form verhindert uns nicht, die Atlas und den Roman des Longus zu würdigen; die Form hat nicht diese Werke Jahrhunderte überleben gemacht; und wenn Shakspeare,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/26>, abgerufen am 28.05.2024.