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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Kampf zu einer Zeit, wo sich wegen geringerer Verlegenheiten einer
meiner Freunde, dessen Selbstmord großes Aufsehen machte, erschossen
hatte." Durch Hartnäckigkeit und Muth ging Balzac als Sieger
aus diesem Kampfe hervor. I^e clerniei- <Äwuiu>, der 1829 erschien,
war der erste Lichtpunkt auf seiner Laufbahn. Dieses Buch, welches
vielleicht in Erfindung und Entwickelung den späteren nachsteht, scheint
mir im Styl eines der besten Balzac's zu sein. Der Autor sagt hier
klar, was er sagen will, und dunkle und verzwickte Phrasen kommen
noch nicht so häufig vor, als anderwärts. Von diesem Buch an war
der literarische Ruf Balzac's beständig im Steigen, I-i, k^siolliAiv ein
Mu-üiFv, In pe.'in it"; lüiut-nri", l'tiiswirv ac IVei/e stellten ihn
unter die beliebtesten Schriftsteller; und bald entstand eine neue und
zahllose Bücherfamilie, die von dem Publicum noch freudiger begrüßt
wurde.

Jene große Camera obscura betitelt Lciznes "le l-l vio vrivev,
in der Balzac unsere Zeit von allen ihren Seiten schildern will, läßt
sich in drei Hauptabtheilungen scheiden. Es sind dies die Scene"
"te in Viu k^risivimc!, die Keines <Jo lit Vio "le I^rovmcv, und die
Oiiites on Linkes nkilos"pbiiine8. Ich übergehe die Loutes cliü-
litt'",,,"!", welche Nichts sind als eine Sammlung geistreich und künst¬
lerisch bearbeiteter Obscönitäten, ein Leben eines civilisirten Jüng¬
lings mit der Naivität und der Aufrichtigkeit greisenhafter Ausschwei¬
fung. Die Keeiies <le la Viv "I" ^rovince sind die schönste Blüthe
in dem Ehrenkranze Balzac'S. Hier finden wir jene Interieurs in
niederlyonischer Mundart, die er so trefflich zu malen weiß; hier tref¬
fen wir auf jene köstlichen, klaren Schöpfungen, die ein vollkommenes
Ensemble ohne Lücken und Ueberladung, ohne Trockenheit und ohne
Verschwommenheit bilden, die in Form und Inhalt einfach und wahr
sind und sich der Vollkommenheit nähern. Was die philosophi¬
schen Intentionen unseres Autors betrifft, so sind sie, glaube ich,
sehr schwer auseinanderzusetzen. Die größte Zahl der" mit diesem
imponirenden Beiwort versehenen Bücher hat Nichts damit zu thun;
es ist Nichts als eine buchhändlerische Lockspeise. Es ist überhaupt
.nicht leicht, die vierzig Romane, welche Balzac sein Werk nennt, zu¬
sammenzufassen, um ein moralisches, politisches oder sociales Facit
daraus zu ziehen; sein Gedanke, oder vielmehr seine Gedanken sind


Kampf zu einer Zeit, wo sich wegen geringerer Verlegenheiten einer
meiner Freunde, dessen Selbstmord großes Aufsehen machte, erschossen
hatte." Durch Hartnäckigkeit und Muth ging Balzac als Sieger
aus diesem Kampfe hervor. I^e clerniei- <Äwuiu>, der 1829 erschien,
war der erste Lichtpunkt auf seiner Laufbahn. Dieses Buch, welches
vielleicht in Erfindung und Entwickelung den späteren nachsteht, scheint
mir im Styl eines der besten Balzac's zu sein. Der Autor sagt hier
klar, was er sagen will, und dunkle und verzwickte Phrasen kommen
noch nicht so häufig vor, als anderwärts. Von diesem Buch an war
der literarische Ruf Balzac's beständig im Steigen, I-i, k^siolliAiv ein
Mu-üiFv, In pe.'in it«; lüiut-nri», l'tiiswirv ac IVei/e stellten ihn
unter die beliebtesten Schriftsteller; und bald entstand eine neue und
zahllose Bücherfamilie, die von dem Publicum noch freudiger begrüßt
wurde.

Jene große Camera obscura betitelt Lciznes «le l-l vio vrivev,
in der Balzac unsere Zeit von allen ihren Seiten schildern will, läßt
sich in drei Hauptabtheilungen scheiden. Es sind dies die Scene»
«te in Viu k^risivimc!, die Keines <Jo lit Vio «le I^rovmcv, und die
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lerisch bearbeiteter Obscönitäten, ein Leben eines civilisirten Jüng¬
lings mit der Naivität und der Aufrichtigkeit greisenhafter Ausschwei¬
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in dem Ehrenkranze Balzac'S. Hier finden wir jene Interieurs in
niederlyonischer Mundart, die er so trefflich zu malen weiß; hier tref¬
fen wir auf jene köstlichen, klaren Schöpfungen, die ein vollkommenes
Ensemble ohne Lücken und Ueberladung, ohne Trockenheit und ohne
Verschwommenheit bilden, die in Form und Inhalt einfach und wahr
sind und sich der Vollkommenheit nähern. Was die philosophi¬
schen Intentionen unseres Autors betrifft, so sind sie, glaube ich,
sehr schwer auseinanderzusetzen. Die größte Zahl der" mit diesem
imponirenden Beiwort versehenen Bücher hat Nichts damit zu thun;
es ist Nichts als eine buchhändlerische Lockspeise. Es ist überhaupt
.nicht leicht, die vierzig Romane, welche Balzac sein Werk nennt, zu¬
sammenzufassen, um ein moralisches, politisches oder sociales Facit
daraus zu ziehen; sein Gedanke, oder vielmehr seine Gedanken sind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/38>, abgerufen am 28.05.2024.