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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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minus aus Deutschland, Italien, Polen und Frankreich, heimathlos
durch die Welt irrten. Ein kleiner Staar, kaum noch seiner eigenen
Existenz sicher, kaum in Ordnung mit seinem eigenen Haushalte, hat
sich an die Seite der beiden größten und reichsten Mächte Europas
gestellt, und gleich England und Frankreich hat er gesagt: Kommt
herbei, ihr armen Opfer eurer Ueberzeugungen; ob ihr geirrt, ob nicht,
wir fragen nicht, in unserm Lande seid ihr sicher, an unserm Tische
sollt ihr Brod finden; hier, nehmt von unserm Ueberflusse und ge¬
nießet der Ruhe und der Freiheit unserer Gesetze. Mit kaum achtzig
Millionen Franken jährlicher Staatseinkünfte hat Belgien, gleich Eng¬
land und Frankreich, jenen Flüchtigen, die seine Gastfreundschaft in
Anspruch zu nehmen herbeiströmten, als seine Kostgänger betrachtet
und ihnen tägliche Subsidien gezahlt. Weder Furcht vor einem mäch¬
tigen Nachbar, noch Mißtrauen gegen die von fremden Hitzköpfen in
Belgien selbst möglichen Anzettelungen zum Aufruhr, hat es abge¬
schreckt, seine Freistätte zu öffnen, während doch weit mächtigere und
selbständigere Staaten ihr Herz egoistisch zusammenschnürten und ihre
Pforten mitleidslos verschlossen, oder höchstens einen raschen Durch¬
zug -- welche Großmuth! -- den Unglücklichen gestatteten. Noch
bis auf diesen Augenblick hat Belgien mit keinem seiner Nachbarn
ein Cartel selbst gegen Militärflüchtlinge geschlossen.

"Gott lohn'S! Gott gebe Euch tausendmal so viel!" --sagt der
Arme, dem man ein Almosen reicht. Und wahrlich, Gott hat es
Belgien gelohnt; in würdigem Selbstbewußtsein kann es zu gewissen
Nachbarn sagen: Seht, ich gab ihnen Heimath, Schutz und Brod --
und doch gedeihe ich, und mein Frieden, meine Ruhe blieben un¬
gestört.

Die Zahl der in Belgien lebenden Flüchtlinge hat in den letzten
Jahren sehr abgenommen. Die zahlreichen Italiener sind nach der
Amnestie, welche Oesterreich nach der Kaiser-Krönung in Mailand
erlassen hat, wieder an ihren heimathlichen Herd zurückgekehrt. Nur
einige Gelehrte haben aus freier Wahl es vorgezogen, in Belgien zu
bleiben, so die beiden Statistiker: Graf Arivabene und Signor Chitti,
und der in letzterer Zeit so wichtig gewordene Abbate Gioberti,
Verfasser des religiös-politischen Werkes <IeI primuto nor-tlo e civile
6vKll Italiimi (Üiiixellks IV-eluie 1843, 2 Bände). Der Abbate
Gioberti ist der Lamennais Italiens; seine Schriften sind in Italien


Grenzboten I"-iZ, I. 2

minus aus Deutschland, Italien, Polen und Frankreich, heimathlos
durch die Welt irrten. Ein kleiner Staar, kaum noch seiner eigenen
Existenz sicher, kaum in Ordnung mit seinem eigenen Haushalte, hat
sich an die Seite der beiden größten und reichsten Mächte Europas
gestellt, und gleich England und Frankreich hat er gesagt: Kommt
herbei, ihr armen Opfer eurer Ueberzeugungen; ob ihr geirrt, ob nicht,
wir fragen nicht, in unserm Lande seid ihr sicher, an unserm Tische
sollt ihr Brod finden; hier, nehmt von unserm Ueberflusse und ge¬
nießet der Ruhe und der Freiheit unserer Gesetze. Mit kaum achtzig
Millionen Franken jährlicher Staatseinkünfte hat Belgien, gleich Eng¬
land und Frankreich, jenen Flüchtigen, die seine Gastfreundschaft in
Anspruch zu nehmen herbeiströmten, als seine Kostgänger betrachtet
und ihnen tägliche Subsidien gezahlt. Weder Furcht vor einem mäch¬
tigen Nachbar, noch Mißtrauen gegen die von fremden Hitzköpfen in
Belgien selbst möglichen Anzettelungen zum Aufruhr, hat es abge¬
schreckt, seine Freistätte zu öffnen, während doch weit mächtigere und
selbständigere Staaten ihr Herz egoistisch zusammenschnürten und ihre
Pforten mitleidslos verschlossen, oder höchstens einen raschen Durch¬
zug — welche Großmuth! — den Unglücklichen gestatteten. Noch
bis auf diesen Augenblick hat Belgien mit keinem seiner Nachbarn
ein Cartel selbst gegen Militärflüchtlinge geschlossen.

„Gott lohn'S! Gott gebe Euch tausendmal so viel!" —sagt der
Arme, dem man ein Almosen reicht. Und wahrlich, Gott hat es
Belgien gelohnt; in würdigem Selbstbewußtsein kann es zu gewissen
Nachbarn sagen: Seht, ich gab ihnen Heimath, Schutz und Brod —
und doch gedeihe ich, und mein Frieden, meine Ruhe blieben un¬
gestört.

Die Zahl der in Belgien lebenden Flüchtlinge hat in den letzten
Jahren sehr abgenommen. Die zahlreichen Italiener sind nach der
Amnestie, welche Oesterreich nach der Kaiser-Krönung in Mailand
erlassen hat, wieder an ihren heimathlichen Herd zurückgekehrt. Nur
einige Gelehrte haben aus freier Wahl es vorgezogen, in Belgien zu
bleiben, so die beiden Statistiker: Graf Arivabene und Signor Chitti,
und der in letzterer Zeit so wichtig gewordene Abbate Gioberti,
Verfasser des religiös-politischen Werkes <IeI primuto nor-tlo e civile
6vKll Italiimi (Üiiixellks IV-eluie 1843, 2 Bände). Der Abbate
Gioberti ist der Lamennais Italiens; seine Schriften sind in Italien


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/15>, abgerufen am 18.05.2024.