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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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seine Parallele zwischen seinem Elende und dem Lurus, der sich dicht
daneben im Ueberflusse ennuyirt. Es wäre Unrecht, die Uebelstände
in Bausch und Bogen auf Rechnung des Systems zu setzen: manche
Schäden, in welche die unerbittliche Sonde Bewußtsein heute so
schmerzend vorgedrungen ist, liegen zu tief, umfassen zu viel, als daß
sie ohne energische Schritte allein durch das Baumöl einer gelinden
Staatsregie könnten ausgeheilt werden. Von der Verkümmerung der
geistigen Güter wollen wir gar nicht reden; wer sich durch Beispiele
belehren will, nehme das im vorigen Jahre erschienene bekannte Buch
zur Hand. Aber auch materiell steht es mit Würtemberg nicht sehr gün¬
stig. Während der Staat unter einer sorgfältigen und in den meisten
Punkten lichtvollen Verwaltung gedeiht, nimmt, wie schon bemerkt,
der Wohlstand der Einzelnen ab. ES gibt der Klagepunkte eine
ganze Litanei: z. B. übergroße Grundsteuer und somit allzuharte
Belastung der Bauern, Zehnten, mannichfache Gulden, Patrimonial-
gerichtsbarkeit; starker Aufwand für Kasernen und für Gesandtschaf¬
ten, Ueberbleibsel des Zunftzwanges, unnöthige und kostbare Mittel¬
stellen (Krcisfinanzkammern, Kreisregierungen), klägliche Besoldung der
Schullehrer und anderer niederen Beamten, Mangel an Organisa¬
tion des Armenwesens, schlechter Zustand vieler Gefängnisse, die den
Geistlichen erlaubte Geschenkannahme u. s. w. Selten vergeht ein
Tag, wo nicht der "Beobachter" das Blatt der würtembergischen
Opposition, eine herbe und motivirte Klage über Mängel der Gesetz¬
gebung oder der Verwaltung bringt. Dieses Blatt zählt, obwohl
der Würtenberger sehr ungern Geld für Lectüre ausgibt, jetzt drei¬
tausend Abonnenten. Die Beamtenwelt fürchtet dieses Tribunal, und
mit Recht, da sich nicht läugnen läßt, daß, wenn schreiende Mi߬
bräuche durch den "Beobachter" aufgedeckt werden, die Ministerien
häufig Kenntniß davon nehmen. Eine bemerkenswerthe Erscheinung
aber ist es namentlich, daß selbst diese Beamtenwelt das bisherige
System nicht mehr recht goutiren will, daß ihr der alte Styl da
und dort unbrauchbar vorkommt. Lassen wir das Beamtenthum;
aber denken wir uns einen Fuhrmann, der seit vielen Jahren mit
seinem Frachtwagen im gewohnten Geleise der Chaussven langsam
das Land durchzog, und der nun plötzlich als Eisenbahnconducteur
den pressanten Zeitgeist führen soll: ich überlasse es dem Scharfsinne
der Leser, diesen würtembergischen Rebus aufzulösen. --


seine Parallele zwischen seinem Elende und dem Lurus, der sich dicht
daneben im Ueberflusse ennuyirt. Es wäre Unrecht, die Uebelstände
in Bausch und Bogen auf Rechnung des Systems zu setzen: manche
Schäden, in welche die unerbittliche Sonde Bewußtsein heute so
schmerzend vorgedrungen ist, liegen zu tief, umfassen zu viel, als daß
sie ohne energische Schritte allein durch das Baumöl einer gelinden
Staatsregie könnten ausgeheilt werden. Von der Verkümmerung der
geistigen Güter wollen wir gar nicht reden; wer sich durch Beispiele
belehren will, nehme das im vorigen Jahre erschienene bekannte Buch
zur Hand. Aber auch materiell steht es mit Würtemberg nicht sehr gün¬
stig. Während der Staat unter einer sorgfältigen und in den meisten
Punkten lichtvollen Verwaltung gedeiht, nimmt, wie schon bemerkt,
der Wohlstand der Einzelnen ab. ES gibt der Klagepunkte eine
ganze Litanei: z. B. übergroße Grundsteuer und somit allzuharte
Belastung der Bauern, Zehnten, mannichfache Gulden, Patrimonial-
gerichtsbarkeit; starker Aufwand für Kasernen und für Gesandtschaf¬
ten, Ueberbleibsel des Zunftzwanges, unnöthige und kostbare Mittel¬
stellen (Krcisfinanzkammern, Kreisregierungen), klägliche Besoldung der
Schullehrer und anderer niederen Beamten, Mangel an Organisa¬
tion des Armenwesens, schlechter Zustand vieler Gefängnisse, die den
Geistlichen erlaubte Geschenkannahme u. s. w. Selten vergeht ein
Tag, wo nicht der „Beobachter" das Blatt der würtembergischen
Opposition, eine herbe und motivirte Klage über Mängel der Gesetz¬
gebung oder der Verwaltung bringt. Dieses Blatt zählt, obwohl
der Würtenberger sehr ungern Geld für Lectüre ausgibt, jetzt drei¬
tausend Abonnenten. Die Beamtenwelt fürchtet dieses Tribunal, und
mit Recht, da sich nicht läugnen läßt, daß, wenn schreiende Mi߬
bräuche durch den „Beobachter" aufgedeckt werden, die Ministerien
häufig Kenntniß davon nehmen. Eine bemerkenswerthe Erscheinung
aber ist es namentlich, daß selbst diese Beamtenwelt das bisherige
System nicht mehr recht goutiren will, daß ihr der alte Styl da
und dort unbrauchbar vorkommt. Lassen wir das Beamtenthum;
aber denken wir uns einen Fuhrmann, der seit vielen Jahren mit
seinem Frachtwagen im gewohnten Geleise der Chaussven langsam
das Land durchzog, und der nun plötzlich als Eisenbahnconducteur
den pressanten Zeitgeist führen soll: ich überlasse es dem Scharfsinne
der Leser, diesen würtembergischen Rebus aufzulösen. —


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[0150] seine Parallele zwischen seinem Elende und dem Lurus, der sich dicht daneben im Ueberflusse ennuyirt. Es wäre Unrecht, die Uebelstände in Bausch und Bogen auf Rechnung des Systems zu setzen: manche Schäden, in welche die unerbittliche Sonde Bewußtsein heute so schmerzend vorgedrungen ist, liegen zu tief, umfassen zu viel, als daß sie ohne energische Schritte allein durch das Baumöl einer gelinden Staatsregie könnten ausgeheilt werden. Von der Verkümmerung der geistigen Güter wollen wir gar nicht reden; wer sich durch Beispiele belehren will, nehme das im vorigen Jahre erschienene bekannte Buch zur Hand. Aber auch materiell steht es mit Würtemberg nicht sehr gün¬ stig. Während der Staat unter einer sorgfältigen und in den meisten Punkten lichtvollen Verwaltung gedeiht, nimmt, wie schon bemerkt, der Wohlstand der Einzelnen ab. ES gibt der Klagepunkte eine ganze Litanei: z. B. übergroße Grundsteuer und somit allzuharte Belastung der Bauern, Zehnten, mannichfache Gulden, Patrimonial- gerichtsbarkeit; starker Aufwand für Kasernen und für Gesandtschaf¬ ten, Ueberbleibsel des Zunftzwanges, unnöthige und kostbare Mittel¬ stellen (Krcisfinanzkammern, Kreisregierungen), klägliche Besoldung der Schullehrer und anderer niederen Beamten, Mangel an Organisa¬ tion des Armenwesens, schlechter Zustand vieler Gefängnisse, die den Geistlichen erlaubte Geschenkannahme u. s. w. Selten vergeht ein Tag, wo nicht der „Beobachter" das Blatt der würtembergischen Opposition, eine herbe und motivirte Klage über Mängel der Gesetz¬ gebung oder der Verwaltung bringt. Dieses Blatt zählt, obwohl der Würtenberger sehr ungern Geld für Lectüre ausgibt, jetzt drei¬ tausend Abonnenten. Die Beamtenwelt fürchtet dieses Tribunal, und mit Recht, da sich nicht läugnen läßt, daß, wenn schreiende Mi߬ bräuche durch den „Beobachter" aufgedeckt werden, die Ministerien häufig Kenntniß davon nehmen. Eine bemerkenswerthe Erscheinung aber ist es namentlich, daß selbst diese Beamtenwelt das bisherige System nicht mehr recht goutiren will, daß ihr der alte Styl da und dort unbrauchbar vorkommt. Lassen wir das Beamtenthum; aber denken wir uns einen Fuhrmann, der seit vielen Jahren mit seinem Frachtwagen im gewohnten Geleise der Chaussven langsam das Land durchzog, und der nun plötzlich als Eisenbahnconducteur den pressanten Zeitgeist führen soll: ich überlasse es dem Scharfsinne der Leser, diesen würtembergischen Rebus aufzulösen. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/150>, abgerufen am 31.05.2024.