Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schwerer als in homogenen Staaten. Wahrend man in letzteren mit
einem Decrete den ganzen Staatsnexus umfaßt, braucht es hier zehn¬
fach verschiedener. Da in Oesterreich fast jede Provinz einer andern
Politik bedarf, so geschieht es oft, daß die stürmischen Gebietstheile die
Aufmerksamkeit der Hofburg mehr auf sich ziehen, als die ruhigen.
Offenbar absorbirt das schwierige Ungarn und> das sehr zu schonende
Italien den größten Theil unserer innern Politik. Durch Böhmen,
Oesterreich, Galizien :c. wo alles seinen alten ausgetretenen Gang
fortgeht, wird die Regierung weniger zu reformatorischer Initiative
angeregt, und manches Nothwendige wird hier auf die Lange hinaus¬
geschoben, während bei den drängenden Ungarn und den der hurtiger
französischen Administration sich erinnernden Italienern der Staats¬
entschluß schneller bei der Hand ist. Auf diese Weise zeigt steh's oft,
daß die ruhigen und stillen Provinzen weniger begünstigt sind, als
ihre lärmenden und unsichern Staatsgenossen. Um nur ein Beispiel
unter Hunderten heraus zu heben, haben die widerstandischen Magya¬
ren eine fast freie Presse, während den getreuen und zuverlässigen deut¬
schen Staatstheile die allerstrengste Wortfessel angelegt ist. Ja, in
Böhmen selbst genießt die Presse der viel bewegtem Czechen eine
Censurbegünstigung, deren sich die deutsche keineswegs erfreut. Diese
Politik hat etwas ganz originelles: eine Schulmeisterpolitik ist es sicher¬
lich nicht. Denn jeder Schulmeister gibt zuerst den sich brav aus¬
führenden Schuljungen die Aepfel, die er zu vertheilen hat. Man be¬
hauptet, daß dann die unartigen Buben, um gleichfalls Aepfel zu be¬
kommen, allmälig ruhiger werden. Ich verstehe Nichts von der Pä¬
dagogik, aber so viel weiß ich, wenn Jemand in unserer hiesigen
Musterschule das pädagogische Prinzip aufstellen würde, man müsse
die rothen Vorsdorfer zu allererst den Schreihälsen geben, die ruhigen
Schüler dagegen ohne Jansen nach Hause schicken -- so würde er
gewiß "pctschirt." Nun, die Überschwemmung, hat auch uns zu
Schreihalsen gemacht, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird-
man diesesmal uns ernstlich hören. Böhmen wird wieder in den
Vordergrund der Staatssorge treten neben Ungarn und Italien. Das
Nothgeschrei aus dem Riesengebirge von vorigem Jahre, der Ueber-
schwemmungsjammer in diesem, werden die Fürsorge unserer
menschenfreundlichen Dynastie energischer den darnieder liegenden un¬
tern Klassen zuwenden. Wie viel auch unsere mittlern Klassen Wün¬
sche haben mögen und wie gerecht sie auch sind, die allernächste Sorg¬
falt gehört den untersten Ständen, welche von mittelalterlichen Zu¬
ständen, von nachsichtslosen Gutsherrn, von egoistischen Beamten, von
mangelhafter Schulbildung niedergehalten, allen Muth der Selbst-
ständigkeit entbehren, der Jedermann nothwendig ist, um vom faulem
Elende zum. umgreifenden Wohlstande sich aufzuschwingen.


R. v. W.,

schwerer als in homogenen Staaten. Wahrend man in letzteren mit
einem Decrete den ganzen Staatsnexus umfaßt, braucht es hier zehn¬
fach verschiedener. Da in Oesterreich fast jede Provinz einer andern
Politik bedarf, so geschieht es oft, daß die stürmischen Gebietstheile die
Aufmerksamkeit der Hofburg mehr auf sich ziehen, als die ruhigen.
Offenbar absorbirt das schwierige Ungarn und> das sehr zu schonende
Italien den größten Theil unserer innern Politik. Durch Böhmen,
Oesterreich, Galizien :c. wo alles seinen alten ausgetretenen Gang
fortgeht, wird die Regierung weniger zu reformatorischer Initiative
angeregt, und manches Nothwendige wird hier auf die Lange hinaus¬
geschoben, während bei den drängenden Ungarn und den der hurtiger
französischen Administration sich erinnernden Italienern der Staats¬
entschluß schneller bei der Hand ist. Auf diese Weise zeigt steh's oft,
daß die ruhigen und stillen Provinzen weniger begünstigt sind, als
ihre lärmenden und unsichern Staatsgenossen. Um nur ein Beispiel
unter Hunderten heraus zu heben, haben die widerstandischen Magya¬
ren eine fast freie Presse, während den getreuen und zuverlässigen deut¬
schen Staatstheile die allerstrengste Wortfessel angelegt ist. Ja, in
Böhmen selbst genießt die Presse der viel bewegtem Czechen eine
Censurbegünstigung, deren sich die deutsche keineswegs erfreut. Diese
Politik hat etwas ganz originelles: eine Schulmeisterpolitik ist es sicher¬
lich nicht. Denn jeder Schulmeister gibt zuerst den sich brav aus¬
führenden Schuljungen die Aepfel, die er zu vertheilen hat. Man be¬
hauptet, daß dann die unartigen Buben, um gleichfalls Aepfel zu be¬
kommen, allmälig ruhiger werden. Ich verstehe Nichts von der Pä¬
dagogik, aber so viel weiß ich, wenn Jemand in unserer hiesigen
Musterschule das pädagogische Prinzip aufstellen würde, man müsse
die rothen Vorsdorfer zu allererst den Schreihälsen geben, die ruhigen
Schüler dagegen ohne Jansen nach Hause schicken — so würde er
gewiß „pctschirt." Nun, die Überschwemmung, hat auch uns zu
Schreihalsen gemacht, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird-
man diesesmal uns ernstlich hören. Böhmen wird wieder in den
Vordergrund der Staatssorge treten neben Ungarn und Italien. Das
Nothgeschrei aus dem Riesengebirge von vorigem Jahre, der Ueber-
schwemmungsjammer in diesem, werden die Fürsorge unserer
menschenfreundlichen Dynastie energischer den darnieder liegenden un¬
tern Klassen zuwenden. Wie viel auch unsere mittlern Klassen Wün¬
sche haben mögen und wie gerecht sie auch sind, die allernächste Sorg¬
falt gehört den untersten Ständen, welche von mittelalterlichen Zu¬
ständen, von nachsichtslosen Gutsherrn, von egoistischen Beamten, von
mangelhafter Schulbildung niedergehalten, allen Muth der Selbst-
ständigkeit entbehren, der Jedermann nothwendig ist, um vom faulem
Elende zum. umgreifenden Wohlstande sich aufzuschwingen.


R. v. W.,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0198" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/270257"/>
            <p xml:id="ID_456" prev="#ID_455"> schwerer als in homogenen Staaten. Wahrend man in letzteren mit<lb/>
einem Decrete den ganzen Staatsnexus umfaßt, braucht es hier zehn¬<lb/>
fach verschiedener. Da in Oesterreich fast jede Provinz einer andern<lb/>
Politik bedarf, so geschieht es oft, daß die stürmischen Gebietstheile die<lb/>
Aufmerksamkeit der Hofburg mehr auf sich ziehen, als die ruhigen.<lb/>
Offenbar absorbirt das schwierige Ungarn und&gt; das sehr zu schonende<lb/>
Italien den größten Theil unserer innern Politik. Durch Böhmen,<lb/>
Oesterreich, Galizien :c. wo alles seinen alten ausgetretenen Gang<lb/>
fortgeht, wird die Regierung weniger zu reformatorischer Initiative<lb/>
angeregt, und manches Nothwendige wird hier auf die Lange hinaus¬<lb/>
geschoben, während bei den drängenden Ungarn und den der hurtiger<lb/>
französischen Administration sich erinnernden Italienern der Staats¬<lb/>
entschluß schneller bei der Hand ist. Auf diese Weise zeigt steh's oft,<lb/>
daß die ruhigen und stillen Provinzen weniger begünstigt sind, als<lb/>
ihre lärmenden und unsichern Staatsgenossen. Um nur ein Beispiel<lb/>
unter Hunderten heraus zu heben, haben die widerstandischen Magya¬<lb/>
ren eine fast freie Presse, während den getreuen und zuverlässigen deut¬<lb/>
schen Staatstheile die allerstrengste Wortfessel angelegt ist. Ja, in<lb/>
Böhmen selbst genießt die Presse der viel bewegtem Czechen eine<lb/>
Censurbegünstigung, deren sich die deutsche keineswegs erfreut. Diese<lb/>
Politik hat etwas ganz originelles: eine Schulmeisterpolitik ist es sicher¬<lb/>
lich nicht. Denn jeder Schulmeister gibt zuerst den sich brav aus¬<lb/>
führenden Schuljungen die Aepfel, die er zu vertheilen hat. Man be¬<lb/>
hauptet, daß dann die unartigen Buben, um gleichfalls Aepfel zu be¬<lb/>
kommen, allmälig ruhiger werden. Ich verstehe Nichts von der Pä¬<lb/>
dagogik, aber so viel weiß ich, wenn Jemand in unserer hiesigen<lb/>
Musterschule das pädagogische Prinzip aufstellen würde, man müsse<lb/>
die rothen Vorsdorfer zu allererst den Schreihälsen geben, die ruhigen<lb/>
Schüler dagegen ohne Jansen nach Hause schicken &#x2014; so würde er<lb/>
gewiß &#x201E;pctschirt." Nun, die Überschwemmung, hat auch uns zu<lb/>
Schreihalsen gemacht, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird-<lb/>
man diesesmal uns ernstlich hören. Böhmen wird wieder in den<lb/>
Vordergrund der Staatssorge treten neben Ungarn und Italien. Das<lb/>
Nothgeschrei aus dem Riesengebirge von vorigem Jahre, der Ueber-<lb/>
schwemmungsjammer in diesem, werden die Fürsorge unserer<lb/>
menschenfreundlichen Dynastie energischer den darnieder liegenden un¬<lb/>
tern Klassen zuwenden. Wie viel auch unsere mittlern Klassen Wün¬<lb/>
sche haben mögen und wie gerecht sie auch sind, die allernächste Sorg¬<lb/>
falt gehört den untersten Ständen, welche von mittelalterlichen Zu¬<lb/>
ständen, von nachsichtslosen Gutsherrn, von egoistischen Beamten, von<lb/>
mangelhafter Schulbildung niedergehalten, allen Muth der Selbst-<lb/>
ständigkeit entbehren, der Jedermann nothwendig ist, um vom faulem<lb/>
Elende zum. umgreifenden Wohlstande sich aufzuschwingen.</p><lb/>
            <note type="byline"> R. v. W.,</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0198] schwerer als in homogenen Staaten. Wahrend man in letzteren mit einem Decrete den ganzen Staatsnexus umfaßt, braucht es hier zehn¬ fach verschiedener. Da in Oesterreich fast jede Provinz einer andern Politik bedarf, so geschieht es oft, daß die stürmischen Gebietstheile die Aufmerksamkeit der Hofburg mehr auf sich ziehen, als die ruhigen. Offenbar absorbirt das schwierige Ungarn und> das sehr zu schonende Italien den größten Theil unserer innern Politik. Durch Böhmen, Oesterreich, Galizien :c. wo alles seinen alten ausgetretenen Gang fortgeht, wird die Regierung weniger zu reformatorischer Initiative angeregt, und manches Nothwendige wird hier auf die Lange hinaus¬ geschoben, während bei den drängenden Ungarn und den der hurtiger französischen Administration sich erinnernden Italienern der Staats¬ entschluß schneller bei der Hand ist. Auf diese Weise zeigt steh's oft, daß die ruhigen und stillen Provinzen weniger begünstigt sind, als ihre lärmenden und unsichern Staatsgenossen. Um nur ein Beispiel unter Hunderten heraus zu heben, haben die widerstandischen Magya¬ ren eine fast freie Presse, während den getreuen und zuverlässigen deut¬ schen Staatstheile die allerstrengste Wortfessel angelegt ist. Ja, in Böhmen selbst genießt die Presse der viel bewegtem Czechen eine Censurbegünstigung, deren sich die deutsche keineswegs erfreut. Diese Politik hat etwas ganz originelles: eine Schulmeisterpolitik ist es sicher¬ lich nicht. Denn jeder Schulmeister gibt zuerst den sich brav aus¬ führenden Schuljungen die Aepfel, die er zu vertheilen hat. Man be¬ hauptet, daß dann die unartigen Buben, um gleichfalls Aepfel zu be¬ kommen, allmälig ruhiger werden. Ich verstehe Nichts von der Pä¬ dagogik, aber so viel weiß ich, wenn Jemand in unserer hiesigen Musterschule das pädagogische Prinzip aufstellen würde, man müsse die rothen Vorsdorfer zu allererst den Schreihälsen geben, die ruhigen Schüler dagegen ohne Jansen nach Hause schicken — so würde er gewiß „pctschirt." Nun, die Überschwemmung, hat auch uns zu Schreihalsen gemacht, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird- man diesesmal uns ernstlich hören. Böhmen wird wieder in den Vordergrund der Staatssorge treten neben Ungarn und Italien. Das Nothgeschrei aus dem Riesengebirge von vorigem Jahre, der Ueber- schwemmungsjammer in diesem, werden die Fürsorge unserer menschenfreundlichen Dynastie energischer den darnieder liegenden un¬ tern Klassen zuwenden. Wie viel auch unsere mittlern Klassen Wün¬ sche haben mögen und wie gerecht sie auch sind, die allernächste Sorg¬ falt gehört den untersten Ständen, welche von mittelalterlichen Zu¬ ständen, von nachsichtslosen Gutsherrn, von egoistischen Beamten, von mangelhafter Schulbildung niedergehalten, allen Muth der Selbst- ständigkeit entbehren, der Jedermann nothwendig ist, um vom faulem Elende zum. umgreifenden Wohlstande sich aufzuschwingen. R. v. W.,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/198
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/198>, abgerufen am 09.05.2024.