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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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abgerechnet, am Ende ein reines Prakticum. Das Resultat war, wie
gesagt, die Verwerfung der Ccnsurkoften: in Würtemberg und wohl
in allen deutschen Ländern ein unerhörtes Ereigniß. Die formelle
Folge ist, daß der Minister des Auswärtigen, Graf v. Beroldingen,
diese von der zweiten Kammer nicht gerechtfertigte Ausgabe nunmehr
aus eigener Tasche ersetzen muß. Die Opposition sprach sogar aus,
daß, wenn sie nicht dieses Mittel der Steuerverweigerung hätte, sie
keinen Anstand nehmen könnte, auf Versetzung in Anklagestand
anzutragen. Würtemberg verarbeitet gegenwärtig eine Krisis. Alles
ist genirt, verstimmt. Hier fehlt es an Geld, dort an freier Berech¬
nung ; das staatliche Leben wird nur so trainirt. Wir bequemen uns
endlich, Eisenbahnen zu bauen für 30 Millionen Gulden; nun da
wir bauen wollen, weigert sich der Nachbar rechts, der Nachbar links,
mit uns einzutreten. Wir machen ein neues Strafgesetzbuch, und
seither werden eS der Verbrecher immer mehr. Wir setzen aus
Oekonomie die Zinse unsrer Staatsschuld herunter und erhalten da¬
durch statt Vortheil eine Einbuße, die in die Hunderttausende läuft.

Doch darf man keinen Augenblick zweifeln, daß Würtemberg
aus dieser Krisis verjüngt hervorgehen wird; denn es ist hier ein
tüchtiger, solider Menschenschlag, über den die Geschichte schon
manche schwere Prüfung hingewälzt hat, ohne ihn zu knicken. Und
pflegt man hier auch nicht viel vom freien deutschen Rhein, vom
großen einigen Deutschland zu peroriren und nach dem Beifalle des
Tages zu haschen, ja ist sich der größte Theil selbst der Gebildeten
schwerlich ganz bewußt, wie echt und stark hier, trotz der Neckereien
und Vorurtheile gegen andere Stämme, die Neigung zu Deutschland
ist, so darf man doch auf der andern Seite versichert sein, daß die
würtenbergische zweite Kammer niemals, wie die badischen jüngst
gethan, sich, die Bundesgenossenschaft und die geometrischen Größen-
Verhältnisse so weit vergessen wird, nicht nur den Grundsatz auszu-
sprechen, daß man eine Eisenbahn so lang als nur möglich, wie
einen Darm, durch die ganze Länge des Landes ziehen müsse, son¬
dern daß man auch dem Nachbarstaate die Annahme der Badischen,
dem ganzen übrigen Deutschland fremden Spurweite, als Bedingung
aufzuerlegen habe, wenn man überhaupt einen Anschluß gestatten
wolle. Wohlfeil ist solche Energie.




abgerechnet, am Ende ein reines Prakticum. Das Resultat war, wie
gesagt, die Verwerfung der Ccnsurkoften: in Würtemberg und wohl
in allen deutschen Ländern ein unerhörtes Ereigniß. Die formelle
Folge ist, daß der Minister des Auswärtigen, Graf v. Beroldingen,
diese von der zweiten Kammer nicht gerechtfertigte Ausgabe nunmehr
aus eigener Tasche ersetzen muß. Die Opposition sprach sogar aus,
daß, wenn sie nicht dieses Mittel der Steuerverweigerung hätte, sie
keinen Anstand nehmen könnte, auf Versetzung in Anklagestand
anzutragen. Würtemberg verarbeitet gegenwärtig eine Krisis. Alles
ist genirt, verstimmt. Hier fehlt es an Geld, dort an freier Berech¬
nung ; das staatliche Leben wird nur so trainirt. Wir bequemen uns
endlich, Eisenbahnen zu bauen für 30 Millionen Gulden; nun da
wir bauen wollen, weigert sich der Nachbar rechts, der Nachbar links,
mit uns einzutreten. Wir machen ein neues Strafgesetzbuch, und
seither werden eS der Verbrecher immer mehr. Wir setzen aus
Oekonomie die Zinse unsrer Staatsschuld herunter und erhalten da¬
durch statt Vortheil eine Einbuße, die in die Hunderttausende läuft.

Doch darf man keinen Augenblick zweifeln, daß Würtemberg
aus dieser Krisis verjüngt hervorgehen wird; denn es ist hier ein
tüchtiger, solider Menschenschlag, über den die Geschichte schon
manche schwere Prüfung hingewälzt hat, ohne ihn zu knicken. Und
pflegt man hier auch nicht viel vom freien deutschen Rhein, vom
großen einigen Deutschland zu peroriren und nach dem Beifalle des
Tages zu haschen, ja ist sich der größte Theil selbst der Gebildeten
schwerlich ganz bewußt, wie echt und stark hier, trotz der Neckereien
und Vorurtheile gegen andere Stämme, die Neigung zu Deutschland
ist, so darf man doch auf der andern Seite versichert sein, daß die
würtenbergische zweite Kammer niemals, wie die badischen jüngst
gethan, sich, die Bundesgenossenschaft und die geometrischen Größen-
Verhältnisse so weit vergessen wird, nicht nur den Grundsatz auszu-
sprechen, daß man eine Eisenbahn so lang als nur möglich, wie
einen Darm, durch die ganze Länge des Landes ziehen müsse, son¬
dern daß man auch dem Nachbarstaate die Annahme der Badischen,
dem ganzen übrigen Deutschland fremden Spurweite, als Bedingung
aufzuerlegen habe, wenn man überhaupt einen Anschluß gestatten
wolle. Wohlfeil ist solche Energie.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/312>, abgerufen am 09.05.2024.