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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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worden, ist reine Lüge. Mag das Unternehmen ungesetzlich sein, mo¬
ralisch verwerflich ist es gewiß nicht. Jede verlorene Revolution ist
ein Verbrechen, jede gelungene eine Heldenthat, die mit dem Lorbeer
belohnt wird. Die Organisation und Bewaffnung der Freischaaren
war vortrefflich, und der Zug derselben bis vor Luzern, mit vollkom¬
mener Vermeidung der feindlichen Truppen, soll ein wahres Meister¬
stück gewesen sein. Am Abend des 31. März hatten die Freischaaren
alle vortheilhaften Positionen um Luzern inne, und die Bestürzung in
der von Truppen fast gänzlich entblößten Stadt war so gewaltig, daß
zwei volle Stunden die Thore offen und unbewacht waren, und die
Freischaaren ohne alle Schwierigkeit und ohne alles Blutvergießen
sich derselben hatten bemustern können. Wenn dies die Jesuitenblät¬
ter nicht erzählen, so ist es natürlich ganz in ihrem Interesse, aber
Leute, die sich zu jener Zeit in Luzern aushielten, versichern ganz be¬
stimmt, daß man zwischen sechs bis acht Uhr Abends jeden Augenblick
den Einmarsch der Freischaaren erwartet hätte, daß in allen Haupt¬
straßen die Fensterladen geschlossen gewesen seien, und die Negierung
im Begriff stand, sich aufzulösen. Ueberall war Angst, Bestürzung
und Zähneklappern. Warum die Freischaaren diesen günstigen Mo¬
ment unbenutzt vorübergehen ließen, warum sie sich, statt vorzurücken,
gerade zurückzogen und so Alles in Unordnung und Verwirrung brach¬
ten, das ist das bis jetzt noch vollkommen ungelöste Räthsel, und es
ist wirklich wunderbar, daß diese Sache bis jetzt noch durchaus nicht
aufgeklärt ist, jetzt, da alle Gefangenen frei, und von den Anführern
außer Dr. Steiger Alle im Falle sind, sich über diesen Punkt hören
zu lassen. Am andern Morgen erst kamen für die Luzerner die
Hilfstruppen aus Zug, Uri und Schwyz; es kam zu mehreren klei¬
nen Gefechten, und es erfolgte eine verwirrte und verzweifelte Flucht.
Ueber die Zahl der Gebliebenen ist man jetzt ziemlich im Reinen; es
sind mehr, als man noch vor einigen Wochen glaubte, ungefähr 350;
noch vor einigen Tagen zog man bei Bremgarten die Leiche eines
gefallenen Freischarlers, der die Hände gebunden waren, aus
dem Flusse. Dieser wurde also absichtlich ersäuft. Die Leiche kannte
man nickt mehr. Auch früher wurden auf diese Art drei bis vier
Leichen, meist fein gekleidet, mit goldenen Uhren, Ketten, vielem Geld,
aus der Reuß herausgefischt. Ueberhaupt ist es gewiß, daß die we¬
nigsten der Gefallenen im eigentlichen Gefechte erschossen wurden; son¬
dern die meisten wurden von dem Landsturme wehrlos auf der Flucht
abgefaßt und theils erschossen, theils sonst niedergemacht. Der Pfarrer
B. von Z., der als Feldpater den ganzen Feldzug mitmachte, erzählte
mir schauderhafte Einzelnheiten. Er selbst habe viele Gefangene den
Truppen und Landstürmern entrissen und ihnen das Leben gerettet,
sie aber nicht vor den gräßlichsten Mißhandlungen schützen können.
Er sagte mir ferner, wenn die Landstürmer mehrere Flüchtige gcfan-


worden, ist reine Lüge. Mag das Unternehmen ungesetzlich sein, mo¬
ralisch verwerflich ist es gewiß nicht. Jede verlorene Revolution ist
ein Verbrechen, jede gelungene eine Heldenthat, die mit dem Lorbeer
belohnt wird. Die Organisation und Bewaffnung der Freischaaren
war vortrefflich, und der Zug derselben bis vor Luzern, mit vollkom¬
mener Vermeidung der feindlichen Truppen, soll ein wahres Meister¬
stück gewesen sein. Am Abend des 31. März hatten die Freischaaren
alle vortheilhaften Positionen um Luzern inne, und die Bestürzung in
der von Truppen fast gänzlich entblößten Stadt war so gewaltig, daß
zwei volle Stunden die Thore offen und unbewacht waren, und die
Freischaaren ohne alle Schwierigkeit und ohne alles Blutvergießen
sich derselben hatten bemustern können. Wenn dies die Jesuitenblät¬
ter nicht erzählen, so ist es natürlich ganz in ihrem Interesse, aber
Leute, die sich zu jener Zeit in Luzern aushielten, versichern ganz be¬
stimmt, daß man zwischen sechs bis acht Uhr Abends jeden Augenblick
den Einmarsch der Freischaaren erwartet hätte, daß in allen Haupt¬
straßen die Fensterladen geschlossen gewesen seien, und die Negierung
im Begriff stand, sich aufzulösen. Ueberall war Angst, Bestürzung
und Zähneklappern. Warum die Freischaaren diesen günstigen Mo¬
ment unbenutzt vorübergehen ließen, warum sie sich, statt vorzurücken,
gerade zurückzogen und so Alles in Unordnung und Verwirrung brach¬
ten, das ist das bis jetzt noch vollkommen ungelöste Räthsel, und es
ist wirklich wunderbar, daß diese Sache bis jetzt noch durchaus nicht
aufgeklärt ist, jetzt, da alle Gefangenen frei, und von den Anführern
außer Dr. Steiger Alle im Falle sind, sich über diesen Punkt hören
zu lassen. Am andern Morgen erst kamen für die Luzerner die
Hilfstruppen aus Zug, Uri und Schwyz; es kam zu mehreren klei¬
nen Gefechten, und es erfolgte eine verwirrte und verzweifelte Flucht.
Ueber die Zahl der Gebliebenen ist man jetzt ziemlich im Reinen; es
sind mehr, als man noch vor einigen Wochen glaubte, ungefähr 350;
noch vor einigen Tagen zog man bei Bremgarten die Leiche eines
gefallenen Freischarlers, der die Hände gebunden waren, aus
dem Flusse. Dieser wurde also absichtlich ersäuft. Die Leiche kannte
man nickt mehr. Auch früher wurden auf diese Art drei bis vier
Leichen, meist fein gekleidet, mit goldenen Uhren, Ketten, vielem Geld,
aus der Reuß herausgefischt. Ueberhaupt ist es gewiß, daß die we¬
nigsten der Gefallenen im eigentlichen Gefechte erschossen wurden; son¬
dern die meisten wurden von dem Landsturme wehrlos auf der Flucht
abgefaßt und theils erschossen, theils sonst niedergemacht. Der Pfarrer
B. von Z., der als Feldpater den ganzen Feldzug mitmachte, erzählte
mir schauderhafte Einzelnheiten. Er selbst habe viele Gefangene den
Truppen und Landstürmern entrissen und ihnen das Leben gerettet,
sie aber nicht vor den gräßlichsten Mißhandlungen schützen können.
Er sagte mir ferner, wenn die Landstürmer mehrere Flüchtige gcfan-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/584>, abgerufen am 09.05.2024.