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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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seineGemahlin mit den Worten getröstet: "Sei ruhig, mein Kind! Mein
Vater läßt sie springen, wir wollen sie lausen lassen!" Gewiß, die Aermsten
hatten eine Ahnung von ihrem Schicksal, sie liebten darum ihren Gönner
nicht minder. Bei dem Leichenbegängnis! folgte eine lange Reihe von Wa¬
gen, darin die verlassenen Flügelgöttinncn saßen und weinend die Bein¬
chen hängen ließen. Es war ihr erster Schmerz! Jetzt, wo ihr Un¬
glück den Gipfel erreicht, wo sie, außer einigen Opern, wenig Sprünge
mehr machen dürfen, jetzt wird es bald an der Zeit sein, Romane zu
schreiben: "Die letzte Tänzerin," oder "Geheimnisse der Garderoben."

Unter dem vorigen Könige also blühte das Ballet, doch galt die
Berliner Bühne auch in Betreff des recitirendcn Schauspiels und der
Oper für die erste in Deutschland. Berlin war das Ziel jedes Künst¬
lers von Ehrgeiz und wir haben wohl nicht nöthig, die Namen eines
Ludwig Devrient, Iffland, Lemm, Krüger, Seydelmann zu citiren.
Jetzt ist das Balletpersonal auf einen sehr bescheidnen Etat reducirt.
Aber dafür hat man wohl desto mehr für Schauspiel und Oper ver¬
wendet? Wir werden sehen.

Was zunächst das Schauspiel betrifft, so muß man, um gerecht
zu sein, vorausschicken, daß der Mangel an tüchtigen Schauspielern
in Deutschland ein allgemeiner ist. Der Grund davon liegt in dem
Mangel von Theaterschulen. Es gibt in Deutschland noch eine An¬
zahl von Talenten unter den Schauspielern, man findet deren zuweilen
sogar bei wandernden Truppen und auf kleinen Provinzialbühnen.
Aber ihre augenblicklichen Verhältnisse lassen sie zu keinem ernstem
Studium kommen, und sind sie gesichert, so verfallen sie nicht selten
ihrem Hochmuth. Das Ende vom Liede ist gewöhnlich, daß sie durch
grobe Effecte auf die Masse zu wirken suchen. Sie ersetzen das charak¬
teristische Verständniß durch hohle Declamation, das warme Gefühl
durch koulissenreißerische Geberden. Taucht aber auch einmal ein
Genie auf, eine rohe, natürliche Kraft, so wird selbst diese zuletzt un¬
tergehen, da sie ihrer Manier überlassen bleibt und in Manierirtheit
verfallen muß. Nur die Bildung, die Schule, das Bewußtsein kann
einen Schauspieler zur Vollendung führen. Wenn es eines Beispiels
hierzu bedürfte, so möchten wir unsere Behauptung an einem Mann
erweisen, der viclerscits für einen vollkommnen Schauspieler gilt. Dö-
ring ist allerdings ein großes Talent, er besitzt vor Allen die Mittel
und seltene Begabung. Allein seine hochtragischen Darstellungen sind
ohne Charakteristik und Einheit, es ist keine Seele darin. Die ein¬
zelnen großen Momente, die er zuweilen als Lear, als Richelieu und
namentlich als Shnlock zeigte, sind ein Beleg mehr hierfür. Es sind
einzelne Momente, sein Spiel als Ganzes ist ohne Psychologie und
Bewußtsein. Er hat keine Schule.

Die Berliner Bühne ist in neustcrZeit als ein Theater zweiten Rau-


seineGemahlin mit den Worten getröstet: „Sei ruhig, mein Kind! Mein
Vater läßt sie springen, wir wollen sie lausen lassen!" Gewiß, die Aermsten
hatten eine Ahnung von ihrem Schicksal, sie liebten darum ihren Gönner
nicht minder. Bei dem Leichenbegängnis! folgte eine lange Reihe von Wa¬
gen, darin die verlassenen Flügelgöttinncn saßen und weinend die Bein¬
chen hängen ließen. Es war ihr erster Schmerz! Jetzt, wo ihr Un¬
glück den Gipfel erreicht, wo sie, außer einigen Opern, wenig Sprünge
mehr machen dürfen, jetzt wird es bald an der Zeit sein, Romane zu
schreiben: „Die letzte Tänzerin," oder „Geheimnisse der Garderoben."

Unter dem vorigen Könige also blühte das Ballet, doch galt die
Berliner Bühne auch in Betreff des recitirendcn Schauspiels und der
Oper für die erste in Deutschland. Berlin war das Ziel jedes Künst¬
lers von Ehrgeiz und wir haben wohl nicht nöthig, die Namen eines
Ludwig Devrient, Iffland, Lemm, Krüger, Seydelmann zu citiren.
Jetzt ist das Balletpersonal auf einen sehr bescheidnen Etat reducirt.
Aber dafür hat man wohl desto mehr für Schauspiel und Oper ver¬
wendet? Wir werden sehen.

Was zunächst das Schauspiel betrifft, so muß man, um gerecht
zu sein, vorausschicken, daß der Mangel an tüchtigen Schauspielern
in Deutschland ein allgemeiner ist. Der Grund davon liegt in dem
Mangel von Theaterschulen. Es gibt in Deutschland noch eine An¬
zahl von Talenten unter den Schauspielern, man findet deren zuweilen
sogar bei wandernden Truppen und auf kleinen Provinzialbühnen.
Aber ihre augenblicklichen Verhältnisse lassen sie zu keinem ernstem
Studium kommen, und sind sie gesichert, so verfallen sie nicht selten
ihrem Hochmuth. Das Ende vom Liede ist gewöhnlich, daß sie durch
grobe Effecte auf die Masse zu wirken suchen. Sie ersetzen das charak¬
teristische Verständniß durch hohle Declamation, das warme Gefühl
durch koulissenreißerische Geberden. Taucht aber auch einmal ein
Genie auf, eine rohe, natürliche Kraft, so wird selbst diese zuletzt un¬
tergehen, da sie ihrer Manier überlassen bleibt und in Manierirtheit
verfallen muß. Nur die Bildung, die Schule, das Bewußtsein kann
einen Schauspieler zur Vollendung führen. Wenn es eines Beispiels
hierzu bedürfte, so möchten wir unsere Behauptung an einem Mann
erweisen, der viclerscits für einen vollkommnen Schauspieler gilt. Dö-
ring ist allerdings ein großes Talent, er besitzt vor Allen die Mittel
und seltene Begabung. Allein seine hochtragischen Darstellungen sind
ohne Charakteristik und Einheit, es ist keine Seele darin. Die ein¬
zelnen großen Momente, die er zuweilen als Lear, als Richelieu und
namentlich als Shnlock zeigte, sind ein Beleg mehr hierfür. Es sind
einzelne Momente, sein Spiel als Ganzes ist ohne Psychologie und
Bewußtsein. Er hat keine Schule.

Die Berliner Bühne ist in neustcrZeit als ein Theater zweiten Rau-


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[0074] seineGemahlin mit den Worten getröstet: „Sei ruhig, mein Kind! Mein Vater läßt sie springen, wir wollen sie lausen lassen!" Gewiß, die Aermsten hatten eine Ahnung von ihrem Schicksal, sie liebten darum ihren Gönner nicht minder. Bei dem Leichenbegängnis! folgte eine lange Reihe von Wa¬ gen, darin die verlassenen Flügelgöttinncn saßen und weinend die Bein¬ chen hängen ließen. Es war ihr erster Schmerz! Jetzt, wo ihr Un¬ glück den Gipfel erreicht, wo sie, außer einigen Opern, wenig Sprünge mehr machen dürfen, jetzt wird es bald an der Zeit sein, Romane zu schreiben: „Die letzte Tänzerin," oder „Geheimnisse der Garderoben." Unter dem vorigen Könige also blühte das Ballet, doch galt die Berliner Bühne auch in Betreff des recitirendcn Schauspiels und der Oper für die erste in Deutschland. Berlin war das Ziel jedes Künst¬ lers von Ehrgeiz und wir haben wohl nicht nöthig, die Namen eines Ludwig Devrient, Iffland, Lemm, Krüger, Seydelmann zu citiren. Jetzt ist das Balletpersonal auf einen sehr bescheidnen Etat reducirt. Aber dafür hat man wohl desto mehr für Schauspiel und Oper ver¬ wendet? Wir werden sehen. Was zunächst das Schauspiel betrifft, so muß man, um gerecht zu sein, vorausschicken, daß der Mangel an tüchtigen Schauspielern in Deutschland ein allgemeiner ist. Der Grund davon liegt in dem Mangel von Theaterschulen. Es gibt in Deutschland noch eine An¬ zahl von Talenten unter den Schauspielern, man findet deren zuweilen sogar bei wandernden Truppen und auf kleinen Provinzialbühnen. Aber ihre augenblicklichen Verhältnisse lassen sie zu keinem ernstem Studium kommen, und sind sie gesichert, so verfallen sie nicht selten ihrem Hochmuth. Das Ende vom Liede ist gewöhnlich, daß sie durch grobe Effecte auf die Masse zu wirken suchen. Sie ersetzen das charak¬ teristische Verständniß durch hohle Declamation, das warme Gefühl durch koulissenreißerische Geberden. Taucht aber auch einmal ein Genie auf, eine rohe, natürliche Kraft, so wird selbst diese zuletzt un¬ tergehen, da sie ihrer Manier überlassen bleibt und in Manierirtheit verfallen muß. Nur die Bildung, die Schule, das Bewußtsein kann einen Schauspieler zur Vollendung führen. Wenn es eines Beispiels hierzu bedürfte, so möchten wir unsere Behauptung an einem Mann erweisen, der viclerscits für einen vollkommnen Schauspieler gilt. Dö- ring ist allerdings ein großes Talent, er besitzt vor Allen die Mittel und seltene Begabung. Allein seine hochtragischen Darstellungen sind ohne Charakteristik und Einheit, es ist keine Seele darin. Die ein¬ zelnen großen Momente, die er zuweilen als Lear, als Richelieu und namentlich als Shnlock zeigte, sind ein Beleg mehr hierfür. Es sind einzelne Momente, sein Spiel als Ganzes ist ohne Psychologie und Bewußtsein. Er hat keine Schule. Die Berliner Bühne ist in neustcrZeit als ein Theater zweiten Rau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/74>, abgerufen am 09.05.2024.