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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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im Sillabyren, Lesen und Schreiben so rasch vor, als gälte es nicht
das Erlernen sondern ein Wiederholen, ersetzt sofort den Abgang
schnellerer Auffassung durch Auswendiglernen, pfropft den Kopf der
Jungen mit sprachlichen Regeln voll, die sie kaum mit Mühe lesen
können, übt ihnen die schwierigsten Rechnungen ein, und glaubt die
Aeltern vollkommen befriedigt zu haben, wenn sich nur bei der Prü¬
fung auf jedes Schlagwort ein ganzes Lauffeuer von Worten, For¬
meln und Regeln entzündet, und ihr Paraderößlein das Buch mit
dem Goldschnitt vom grünen Tische apportirt. Aber kaum sind wenige
Wochen um, hat das arme Kind sein ganzes Seiltänzerspiel ver¬
gessen, eS entschwand ihm, was es nicht begriff; es fügt schreibend
so unrichtig, als es spricht, verfehlt Silben und Worte, weil eS
nicht buchstabiren kann, stottert beim Lesen, das sich nur auf die
memorirten Schulbücher erstreckt, ist am Leibe schwach und am Geiste
nicht stärker geworden. So geht'S denn in'S Gymnasium an die Erler¬
nung todter Sprachen, ehe der Knabe noch in der lebenden, die ihm
sein ganzes Volk verbrüdert, heimisch geworden, und dafür, daß
ihm dies nicht so leicht werde, ist gesorgt. Die Aneignung der
Sprachen deS Alterthums ist allerorten ein Hauptzweck der Gymna¬
sien , sie sind aber anderwärts auch dem Turnen auf eigenem Boden
geweiht: die Jünglinge, die sich in den strengen Formen der Griechen
und Römer üben, lernen nicht minder die Töne, die sie ihrer Mut¬
ter nachsprachen, frei und richtig gebrauchen. Bei uns ist es anders;
deutsche Literatur, Sitte, Gemeingeist sind vom Bösen; der Beamte,
wie man ihn zu Tausenden braucht, bleibe bet seinen Akten und
vernachläßige nicht den Beruf über inn- oder auswärtige Welthän¬
del; der Geistliche lese sein Brevier und verwirre daS Volk nicht mit
dem, was man diesseits der Appeninen über den Krebsgang jenseits
denkt; weg mit der schlimmen Saat, die mit Schwindelhafer den
Weizen erstickt! Es gibt da zwar eine für die Jugend eigens zurecht
gemachte deutsche Beispielsammlung, die bemüht ist unsere Homere im
Schlaf zu belauschen, man übt sich sogar in den sogenannten Huma¬
nitätsklassen je zum dritten oder vierten Male in deutschen Aufsätzen,
wie wenig aber beim Widerwillen der größtenteils geistlichen Lehrer
gegen alles Deutsche damit geholfen ist, leuchtet von selbst ein. Nichts
findet häufiger Mißbilligung als deutsche Lectüre unter dem stets berei¬
ten Vorwande, es könne sich nur die Jugend mit dem klassischen Alter-


im Sillabyren, Lesen und Schreiben so rasch vor, als gälte es nicht
das Erlernen sondern ein Wiederholen, ersetzt sofort den Abgang
schnellerer Auffassung durch Auswendiglernen, pfropft den Kopf der
Jungen mit sprachlichen Regeln voll, die sie kaum mit Mühe lesen
können, übt ihnen die schwierigsten Rechnungen ein, und glaubt die
Aeltern vollkommen befriedigt zu haben, wenn sich nur bei der Prü¬
fung auf jedes Schlagwort ein ganzes Lauffeuer von Worten, For¬
meln und Regeln entzündet, und ihr Paraderößlein das Buch mit
dem Goldschnitt vom grünen Tische apportirt. Aber kaum sind wenige
Wochen um, hat das arme Kind sein ganzes Seiltänzerspiel ver¬
gessen, eS entschwand ihm, was es nicht begriff; es fügt schreibend
so unrichtig, als es spricht, verfehlt Silben und Worte, weil eS
nicht buchstabiren kann, stottert beim Lesen, das sich nur auf die
memorirten Schulbücher erstreckt, ist am Leibe schwach und am Geiste
nicht stärker geworden. So geht'S denn in'S Gymnasium an die Erler¬
nung todter Sprachen, ehe der Knabe noch in der lebenden, die ihm
sein ganzes Volk verbrüdert, heimisch geworden, und dafür, daß
ihm dies nicht so leicht werde, ist gesorgt. Die Aneignung der
Sprachen deS Alterthums ist allerorten ein Hauptzweck der Gymna¬
sien , sie sind aber anderwärts auch dem Turnen auf eigenem Boden
geweiht: die Jünglinge, die sich in den strengen Formen der Griechen
und Römer üben, lernen nicht minder die Töne, die sie ihrer Mut¬
ter nachsprachen, frei und richtig gebrauchen. Bei uns ist es anders;
deutsche Literatur, Sitte, Gemeingeist sind vom Bösen; der Beamte,
wie man ihn zu Tausenden braucht, bleibe bet seinen Akten und
vernachläßige nicht den Beruf über inn- oder auswärtige Welthän¬
del; der Geistliche lese sein Brevier und verwirre daS Volk nicht mit
dem, was man diesseits der Appeninen über den Krebsgang jenseits
denkt; weg mit der schlimmen Saat, die mit Schwindelhafer den
Weizen erstickt! Es gibt da zwar eine für die Jugend eigens zurecht
gemachte deutsche Beispielsammlung, die bemüht ist unsere Homere im
Schlaf zu belauschen, man übt sich sogar in den sogenannten Huma¬
nitätsklassen je zum dritten oder vierten Male in deutschen Aufsätzen,
wie wenig aber beim Widerwillen der größtenteils geistlichen Lehrer
gegen alles Deutsche damit geholfen ist, leuchtet von selbst ein. Nichts
findet häufiger Mißbilligung als deutsche Lectüre unter dem stets berei¬
ten Vorwande, es könne sich nur die Jugend mit dem klassischen Alter-


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[0058] im Sillabyren, Lesen und Schreiben so rasch vor, als gälte es nicht das Erlernen sondern ein Wiederholen, ersetzt sofort den Abgang schnellerer Auffassung durch Auswendiglernen, pfropft den Kopf der Jungen mit sprachlichen Regeln voll, die sie kaum mit Mühe lesen können, übt ihnen die schwierigsten Rechnungen ein, und glaubt die Aeltern vollkommen befriedigt zu haben, wenn sich nur bei der Prü¬ fung auf jedes Schlagwort ein ganzes Lauffeuer von Worten, For¬ meln und Regeln entzündet, und ihr Paraderößlein das Buch mit dem Goldschnitt vom grünen Tische apportirt. Aber kaum sind wenige Wochen um, hat das arme Kind sein ganzes Seiltänzerspiel ver¬ gessen, eS entschwand ihm, was es nicht begriff; es fügt schreibend so unrichtig, als es spricht, verfehlt Silben und Worte, weil eS nicht buchstabiren kann, stottert beim Lesen, das sich nur auf die memorirten Schulbücher erstreckt, ist am Leibe schwach und am Geiste nicht stärker geworden. So geht'S denn in'S Gymnasium an die Erler¬ nung todter Sprachen, ehe der Knabe noch in der lebenden, die ihm sein ganzes Volk verbrüdert, heimisch geworden, und dafür, daß ihm dies nicht so leicht werde, ist gesorgt. Die Aneignung der Sprachen deS Alterthums ist allerorten ein Hauptzweck der Gymna¬ sien , sie sind aber anderwärts auch dem Turnen auf eigenem Boden geweiht: die Jünglinge, die sich in den strengen Formen der Griechen und Römer üben, lernen nicht minder die Töne, die sie ihrer Mut¬ ter nachsprachen, frei und richtig gebrauchen. Bei uns ist es anders; deutsche Literatur, Sitte, Gemeingeist sind vom Bösen; der Beamte, wie man ihn zu Tausenden braucht, bleibe bet seinen Akten und vernachläßige nicht den Beruf über inn- oder auswärtige Welthän¬ del; der Geistliche lese sein Brevier und verwirre daS Volk nicht mit dem, was man diesseits der Appeninen über den Krebsgang jenseits denkt; weg mit der schlimmen Saat, die mit Schwindelhafer den Weizen erstickt! Es gibt da zwar eine für die Jugend eigens zurecht gemachte deutsche Beispielsammlung, die bemüht ist unsere Homere im Schlaf zu belauschen, man übt sich sogar in den sogenannten Huma¬ nitätsklassen je zum dritten oder vierten Male in deutschen Aufsätzen, wie wenig aber beim Widerwillen der größtenteils geistlichen Lehrer gegen alles Deutsche damit geholfen ist, leuchtet von selbst ein. Nichts findet häufiger Mißbilligung als deutsche Lectüre unter dem stets berei¬ ten Vorwande, es könne sich nur die Jugend mit dem klassischen Alter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/58>, abgerufen am 15.05.2024.