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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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die in ihr wurzelnde Kunst zu begreifen und zu vertreten,
die Regierungen entschlössen sich zu jener parteilosen Liebe bei,
Entgegennahme der neuen Dramatik, würde dann ein deutsches
National-Drama zu voller, reiner Blüthe gelangen und in die
Vollendung treten? Wiederum: Nein! Ein ungeheurer Fort¬
schritt gegen Jetzt wäre allerdings geschehen, die Lebenden wür¬
den anerkannt werden, sie würden zahlreiche Fesseln abwerfen
von Geist und Phantasie, würden freier, lebenskräftiger austre¬
ten können, denn sie würden Luft gewinnen zum Athmen, --
und diese den Lebenden zu entziehen, ist ein Verbrechen an der Mensch¬
heit. Innere und äußere Vortheile für Dichter und Publieum wür¬
den sich vielfach zeigen durch den erleichterten Zugang der ersteren
zur Bühne, durch die unbeschränktere Wahl des Stoffs und den
nicht mehr verkümmerten Hauch des Geistes, den der Dichter aus
dem innersten Seelen-Drange seinem Werke verleihen muß. Auf-
athmenwürde die deutsche Dramatik, aber neu erschaffen werden nicht.
Zu einer neuen, ächt nationalen, großen und genialen Dichtung auf dra¬
matischem Gebiet wäre auch dann immer noch der Boden nicht vorhanden,
bevor nicht eine Umgestaltung vor sich ginge in allen Beziehungen des
deutschen Lebens. Der Grund und Boden alles Völkerlebens ist
die Politik. Ohne politische Freiheit wird ein einseitiges Gestalten
größerer Freiheit auf diesem oder jenem Einzel-Gebiete immer nur
Anstrebungen und Versuche hervorrufen, die, je energischer sie wer¬
den, um, so mehr die Einzelfreiheit in Gefahr bringen, doch ein
neues dauerndes Kunstleben nicht erzeugen. Politische Freiheit also!
In erregter und befriedigter Lust und Liebe zur öffentlichen Sache
allein, vor dem hellen Sonnenschein der Oeffentlichkeit, dem offenen
Austausch des freien Wortes kann die Unbehaglichkeit, Gedrücktheit
und Thatlosigkeit des jetzigen deutschen Lebens schwinden, nur im
freien, männlichen Handeln für das Allgemeine, getrennt von allen
Standes-Interessen, der deutsche Sinn zu neuer Größe und Ju¬
gendkraft erstehen. So allein kann aus dem breit getretenen Sumpf¬
boden der Mädeben und Indifferenz das Samenkorn des Bewußt¬
seins zu treibenden Pflanzen und Blüthen energischer Thätigkeit er¬
wachsen. So allein würde sich das in lyrische Trübheit und dürre
Reflexion zerspaltene deutsche Leben zu dramatischer Concentratio"


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die in ihr wurzelnde Kunst zu begreifen und zu vertreten,
die Regierungen entschlössen sich zu jener parteilosen Liebe bei,
Entgegennahme der neuen Dramatik, würde dann ein deutsches
National-Drama zu voller, reiner Blüthe gelangen und in die
Vollendung treten? Wiederum: Nein! Ein ungeheurer Fort¬
schritt gegen Jetzt wäre allerdings geschehen, die Lebenden wür¬
den anerkannt werden, sie würden zahlreiche Fesseln abwerfen
von Geist und Phantasie, würden freier, lebenskräftiger austre¬
ten können, denn sie würden Luft gewinnen zum Athmen, —
und diese den Lebenden zu entziehen, ist ein Verbrechen an der Mensch¬
heit. Innere und äußere Vortheile für Dichter und Publieum wür¬
den sich vielfach zeigen durch den erleichterten Zugang der ersteren
zur Bühne, durch die unbeschränktere Wahl des Stoffs und den
nicht mehr verkümmerten Hauch des Geistes, den der Dichter aus
dem innersten Seelen-Drange seinem Werke verleihen muß. Auf-
athmenwürde die deutsche Dramatik, aber neu erschaffen werden nicht.
Zu einer neuen, ächt nationalen, großen und genialen Dichtung auf dra¬
matischem Gebiet wäre auch dann immer noch der Boden nicht vorhanden,
bevor nicht eine Umgestaltung vor sich ginge in allen Beziehungen des
deutschen Lebens. Der Grund und Boden alles Völkerlebens ist
die Politik. Ohne politische Freiheit wird ein einseitiges Gestalten
größerer Freiheit auf diesem oder jenem Einzel-Gebiete immer nur
Anstrebungen und Versuche hervorrufen, die, je energischer sie wer¬
den, um, so mehr die Einzelfreiheit in Gefahr bringen, doch ein
neues dauerndes Kunstleben nicht erzeugen. Politische Freiheit also!
In erregter und befriedigter Lust und Liebe zur öffentlichen Sache
allein, vor dem hellen Sonnenschein der Oeffentlichkeit, dem offenen
Austausch des freien Wortes kann die Unbehaglichkeit, Gedrücktheit
und Thatlosigkeit des jetzigen deutschen Lebens schwinden, nur im
freien, männlichen Handeln für das Allgemeine, getrennt von allen
Standes-Interessen, der deutsche Sinn zu neuer Größe und Ju¬
gendkraft erstehen. So allein kann aus dem breit getretenen Sumpf¬
boden der Mädeben und Indifferenz das Samenkorn des Bewußt¬
seins zu treibenden Pflanzen und Blüthen energischer Thätigkeit er¬
wachsen. So allein würde sich das in lyrische Trübheit und dürre
Reflexion zerspaltene deutsche Leben zu dramatischer Concentratio»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/179>, abgerufen am 30.05.2024.