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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Czartoryskis hätten es vermocht. Aber es war zu spät. Polen
trug seit sechzig Jahren den Todeskeim im Herzen; sein lärmendes
politisches Leben war Delirium und das blühende Roth seiner
Wangen war verzehrende Fiebergluth"). Das Haus CzartottM
war blos der Doctor, der dem Kranken im letzten verzweifelten
Augenblick Moschus gab.

Die damalige polnische Krankheit können wir als ziemlich be¬
kannt voraussetzen. Während sich ringsumher große, nach Einheit
strebende Monarchien erhoben, während Oesterreich und Preußen
ihre Macht mehr oder weniger auf der Grundlage des Bür-
gerthums befestigten und Nußland plötzlich als eine furchtbare,
von dem gewaltigen Scythen Peter mit der Zimmermannsart zu¬
gehauene Eroberungsmaschine, gleichsam als eine slavische Volker -
und Freiheitsguillotine dastand: lebte der polnische Adel wie unser
Herrgott in Frankreich, dachte weder an Einheit, noch an Einig¬
keit, discutirte mit Säbelhieben statt mit Gründen und sah alle
modernen Elemente politischer Wohlfahrt, Industrie, Gewerbe und
Handel, kavaliermäßig über die Achsel an. Und doch kann man
diesen Adel nicht ganz mit dem russischen vergleichen, der die hei¬
mische Barbarei mit ausländischer Schminke und Pomade über¬
tüncht. Polen hatte eine nationale Literatur, einzelne Edelleute
zeichneten sich durch edle Bildung und Intelligenz aus, und der
polnische Character überhaupt war den occidentalen Ideen nichts
weniger als unzugänglich, vielmehr, trieb er den Gedanken indivi¬
dueller Freiheit aus die Spitze. Selbst der Umstand, daß die hun¬
derttausend bespornten und besäbelten Edelleute allein die Nation
ausmachten, während das leibeigene, an die Scholle gebundene
Volk null blieb, war, wenn auch ein großes Unglück, doch nicht
der nächste und der letzte Grund des Verderbens. Aber unter die¬
sen Parteien war nicht so viel Disciplin und Gemeingeist wie in
einer deutschen Studentenverbindung. Alle Nationalfragen wur¬
den als persönliche Fragen jedes Einzelnen angesehen, der durch



Die meisten Polen, erzählt ein Geschichtschreiber, betrachteten damals
die sprüchwörtlich gewordene Reichstagswirthschaft als das schönste und feinste
Regierungssystem, welches jemals auf Erden existirt habe.
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Czartoryskis hätten es vermocht. Aber es war zu spät. Polen
trug seit sechzig Jahren den Todeskeim im Herzen; sein lärmendes
politisches Leben war Delirium und das blühende Roth seiner
Wangen war verzehrende Fiebergluth»). Das Haus CzartottM
war blos der Doctor, der dem Kranken im letzten verzweifelten
Augenblick Moschus gab.

Die damalige polnische Krankheit können wir als ziemlich be¬
kannt voraussetzen. Während sich ringsumher große, nach Einheit
strebende Monarchien erhoben, während Oesterreich und Preußen
ihre Macht mehr oder weniger auf der Grundlage des Bür-
gerthums befestigten und Nußland plötzlich als eine furchtbare,
von dem gewaltigen Scythen Peter mit der Zimmermannsart zu¬
gehauene Eroberungsmaschine, gleichsam als eine slavische Volker -
und Freiheitsguillotine dastand: lebte der polnische Adel wie unser
Herrgott in Frankreich, dachte weder an Einheit, noch an Einig¬
keit, discutirte mit Säbelhieben statt mit Gründen und sah alle
modernen Elemente politischer Wohlfahrt, Industrie, Gewerbe und
Handel, kavaliermäßig über die Achsel an. Und doch kann man
diesen Adel nicht ganz mit dem russischen vergleichen, der die hei¬
mische Barbarei mit ausländischer Schminke und Pomade über¬
tüncht. Polen hatte eine nationale Literatur, einzelne Edelleute
zeichneten sich durch edle Bildung und Intelligenz aus, und der
polnische Character überhaupt war den occidentalen Ideen nichts
weniger als unzugänglich, vielmehr, trieb er den Gedanken indivi¬
dueller Freiheit aus die Spitze. Selbst der Umstand, daß die hun¬
derttausend bespornten und besäbelten Edelleute allein die Nation
ausmachten, während das leibeigene, an die Scholle gebundene
Volk null blieb, war, wenn auch ein großes Unglück, doch nicht
der nächste und der letzte Grund des Verderbens. Aber unter die¬
sen Parteien war nicht so viel Disciplin und Gemeingeist wie in
einer deutschen Studentenverbindung. Alle Nationalfragen wur¬
den als persönliche Fragen jedes Einzelnen angesehen, der durch



Die meisten Polen, erzählt ein Geschichtschreiber, betrachteten damals
die sprüchwörtlich gewordene Reichstagswirthschaft als das schönste und feinste
Regierungssystem, welches jemals auf Erden existirt habe.
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[0347] Czartoryskis hätten es vermocht. Aber es war zu spät. Polen trug seit sechzig Jahren den Todeskeim im Herzen; sein lärmendes politisches Leben war Delirium und das blühende Roth seiner Wangen war verzehrende Fiebergluth»). Das Haus CzartottM war blos der Doctor, der dem Kranken im letzten verzweifelten Augenblick Moschus gab. Die damalige polnische Krankheit können wir als ziemlich be¬ kannt voraussetzen. Während sich ringsumher große, nach Einheit strebende Monarchien erhoben, während Oesterreich und Preußen ihre Macht mehr oder weniger auf der Grundlage des Bür- gerthums befestigten und Nußland plötzlich als eine furchtbare, von dem gewaltigen Scythen Peter mit der Zimmermannsart zu¬ gehauene Eroberungsmaschine, gleichsam als eine slavische Volker - und Freiheitsguillotine dastand: lebte der polnische Adel wie unser Herrgott in Frankreich, dachte weder an Einheit, noch an Einig¬ keit, discutirte mit Säbelhieben statt mit Gründen und sah alle modernen Elemente politischer Wohlfahrt, Industrie, Gewerbe und Handel, kavaliermäßig über die Achsel an. Und doch kann man diesen Adel nicht ganz mit dem russischen vergleichen, der die hei¬ mische Barbarei mit ausländischer Schminke und Pomade über¬ tüncht. Polen hatte eine nationale Literatur, einzelne Edelleute zeichneten sich durch edle Bildung und Intelligenz aus, und der polnische Character überhaupt war den occidentalen Ideen nichts weniger als unzugänglich, vielmehr, trieb er den Gedanken indivi¬ dueller Freiheit aus die Spitze. Selbst der Umstand, daß die hun¬ derttausend bespornten und besäbelten Edelleute allein die Nation ausmachten, während das leibeigene, an die Scholle gebundene Volk null blieb, war, wenn auch ein großes Unglück, doch nicht der nächste und der letzte Grund des Verderbens. Aber unter die¬ sen Parteien war nicht so viel Disciplin und Gemeingeist wie in einer deutschen Studentenverbindung. Alle Nationalfragen wur¬ den als persönliche Fragen jedes Einzelnen angesehen, der durch Die meisten Polen, erzählt ein Geschichtschreiber, betrachteten damals die sprüchwörtlich gewordene Reichstagswirthschaft als das schönste und feinste Regierungssystem, welches jemals auf Erden existirt habe. 43*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/347>, abgerufen am 29.05.2024.