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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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zugegeben werden muß, daß der Contrast des jetzigen Anstandes der
dramatischen Musik in Italien mit der bedeutsamen Vergangenheit
derselben allerdings empfindlich genug ist, um eine Aufwallung des
Unwillens, den Schmerz der Täuschung zu rechtfertigen. An diesem
Gegensatz zwischen Einst und Jetzt keltre die ganze europäische Kunst¬
welt, und er wird in Paris und Wien eben so schneidend empfunden,
als hier und in Neapel. Darum glaube ich, der tiefere Grund die¬
ser ernsten Strenge, welche sich namentlich im nördlichen Italien den
musikalischen Theatererschcinungen gegenüber in der jüngsten Zeit of¬
fenbart, sei wohl auch noch wo anders zu finden, als in dem kriti¬
schen Bewußtsein des Volkes, das sonst nicht allzu stark scheint, und
es drangt sich unwillkürlich die Ueberzeugung uns auf von dem
Einfluß des hyperboräischen Geistes, der von jenseits der Berge
hereinflutet und eine allmählige Modification des vorherrschend ästhe¬
tisch gestimmten Nationalcharakters zu bestimmen scheint. Der poli¬
tische Ernst sitzt wie ein drohender Rübezahl auf den Firnen der
Alpen und verscheucht den seligen Leichtsinn jener harmlosen Theater¬
lust, die ja auch früher in Deutschland so in Blüte stand, und möchte
den nur in krankhaften Verhältnissen ausschließlich den Musen und
Grazien dienstbar gewordenen Geist der Nation zu jener Energie und
Universalität zurückführen, welche sie einst in den herrlichen Zeiten des
Mittelalters, in der Periode der Medicäer, der Dogen und Sforza's
besessen hat.

Man darf sich indeß keinen Augenblick der Täuschung hingeben, als
sei unter dem Geiste, dessen Einwirkungen den italischen Nationalcharakter
umzugestalten drohen, etwa der germanische gemeint, der Geist deut¬
scher Wissenschaft und Literatur. Deutschland ist in Italien in gei¬
stiger Beziehung zu wenig repräsentirt, ganz abgesehen von der klaf¬
fenden Divergenz des volkstümlichen Geistes, als daß es hier in ei¬
nem andern Sinn, denn in materieller Bedeutung, als politische
Awangsmacht, aufgefaßt und beurtheilt werden könnte. Die französi¬
sche Literatur besitzt in Italien ein förmliches Monopol, wie schon
aus der großen Anzahl der Uebersetzungen französischer Schriftsteller
und der höchst bedeutenden Einfuhr französischer Schriftwerke hervor¬
geht. Besucht man'z. B. das Lesecabinet der Soeivtn ^'Incaii-it^iil-
miznto "U "cienzs e ti-Il' ">'".!, das größte in Mailand und von der
Elite der Intelligenz gestiftet, so findet man neben 17 politischen
Blättern in verschiedenen Sprachen, 45 französische Journale, wäh¬
rend nur 42 italienische, 10 englische und A deutsche vorhanden sind.
Bei der politischen Herrschaft der Deutschen in Oberitalien ist dieses
Verhältniß gewiß höchst bezeichnend für die Wurzellosigkeir der öster¬
reichischen Regierung in der Sphäre der Intelligenz.

Im Uebrigen besitzt unsere Stadt einen ansehnlichen Geistesap¬
parat in ihren 33 Buchdruckereien und 32 Buchhandlungen, welcher


zugegeben werden muß, daß der Contrast des jetzigen Anstandes der
dramatischen Musik in Italien mit der bedeutsamen Vergangenheit
derselben allerdings empfindlich genug ist, um eine Aufwallung des
Unwillens, den Schmerz der Täuschung zu rechtfertigen. An diesem
Gegensatz zwischen Einst und Jetzt keltre die ganze europäische Kunst¬
welt, und er wird in Paris und Wien eben so schneidend empfunden,
als hier und in Neapel. Darum glaube ich, der tiefere Grund die¬
ser ernsten Strenge, welche sich namentlich im nördlichen Italien den
musikalischen Theatererschcinungen gegenüber in der jüngsten Zeit of¬
fenbart, sei wohl auch noch wo anders zu finden, als in dem kriti¬
schen Bewußtsein des Volkes, das sonst nicht allzu stark scheint, und
es drangt sich unwillkürlich die Ueberzeugung uns auf von dem
Einfluß des hyperboräischen Geistes, der von jenseits der Berge
hereinflutet und eine allmählige Modification des vorherrschend ästhe¬
tisch gestimmten Nationalcharakters zu bestimmen scheint. Der poli¬
tische Ernst sitzt wie ein drohender Rübezahl auf den Firnen der
Alpen und verscheucht den seligen Leichtsinn jener harmlosen Theater¬
lust, die ja auch früher in Deutschland so in Blüte stand, und möchte
den nur in krankhaften Verhältnissen ausschließlich den Musen und
Grazien dienstbar gewordenen Geist der Nation zu jener Energie und
Universalität zurückführen, welche sie einst in den herrlichen Zeiten des
Mittelalters, in der Periode der Medicäer, der Dogen und Sforza's
besessen hat.

Man darf sich indeß keinen Augenblick der Täuschung hingeben, als
sei unter dem Geiste, dessen Einwirkungen den italischen Nationalcharakter
umzugestalten drohen, etwa der germanische gemeint, der Geist deut¬
scher Wissenschaft und Literatur. Deutschland ist in Italien in gei¬
stiger Beziehung zu wenig repräsentirt, ganz abgesehen von der klaf¬
fenden Divergenz des volkstümlichen Geistes, als daß es hier in ei¬
nem andern Sinn, denn in materieller Bedeutung, als politische
Awangsmacht, aufgefaßt und beurtheilt werden könnte. Die französi¬
sche Literatur besitzt in Italien ein förmliches Monopol, wie schon
aus der großen Anzahl der Uebersetzungen französischer Schriftsteller
und der höchst bedeutenden Einfuhr französischer Schriftwerke hervor¬
geht. Besucht man'z. B. das Lesecabinet der Soeivtn ^'Incaii-it^iil-
miznto «U «cienzs e ti-Il' »>'«.!, das größte in Mailand und von der
Elite der Intelligenz gestiftet, so findet man neben 17 politischen
Blättern in verschiedenen Sprachen, 45 französische Journale, wäh¬
rend nur 42 italienische, 10 englische und A deutsche vorhanden sind.
Bei der politischen Herrschaft der Deutschen in Oberitalien ist dieses
Verhältniß gewiß höchst bezeichnend für die Wurzellosigkeir der öster¬
reichischen Regierung in der Sphäre der Intelligenz.

Im Uebrigen besitzt unsere Stadt einen ansehnlichen Geistesap¬
parat in ihren 33 Buchdruckereien und 32 Buchhandlungen, welcher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/384>, abgerufen am 14.05.2024.