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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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sie erschöpft und tragen kaum noch kranke Kartösfelchen, skrofulöse
und rachitische Kinder der Ausschweifung. Bald werden überall die
dürren Felsknochen durch die magere Haut der Erde hervorstechen.
Ja, auch die Leichen ruhen nicht mehr sicher in ihrem Schoße, denn
um die Flammen unserer Kamine zu nähren, müssen wir immer tiefer
in den Leib der Erde greifen und die schwarzen Friedhöfe früherer
Geschlechter aufwühlen. Mit dem verkohlten Mark und Gebein un¬
serer Väter stillen wir nothdürftig den Hunger unserer künstlichen
Geschöpfe, der eisernen Golems, die uns donnernd in eine schwin¬
delnde Zukunft tragen.

Der Orient hat noch Götter und Götzen; unsere Menschheit hat
keine mehr, denn sie ist selber Gott geworden; Gott und Teufel in
Einer Person. So löst sich der angebliche Widerspruch zwischen All¬
macht und Allgüte, neben so viel erbarmungsloser Ungerechtigkeit.
Kläglich genug, eine solche Gottheit, die durch täglichen Tod unsterb¬
lich, und deren Seligkeit in der Zukunft ist. Die Menschheit ist
Gott, aber die Menschen sind keine Götter; manchmal Halbgötter
und Halbterisel, sehr oft Opferpriester und meistens Opferthiere. Die
Bibel in der diese Offenbarung steht, die Geschichte, ist ergötzlich,
aber nicht erbaulich, und schöner zu lesen, als zu erleben: alle Reli¬
gionen, alle Künste sind nur eine tröstende Verhüllung dieser trauri¬
gen Erkenntniß. In allen Kirchen und Domen beten wir zu uns
selber, und sprechen von uns in der dritten Person. Die göttliche
Komödie der allen Glaubenskriege und Streitigkeiten wird fortge¬
spielt durch stillschweigendes EinVerständniß. Jeder weiß das Geheim¬
niß, aber Niemand soll es sagen; den Gedanken, daß sie sich selbst
überlassen ist, darf die Menschheit nicht laut aussprechen, denn in
dem Augenblick würde sie von Entsetzen ergrissen.

Ein dunkles Gefühl jedoch sagt uns, daß wir keinen eigentli¬
chen Himmel mehr haben. Unsere Thätigkeit hat ihn entkleidet und
leer gewaschen. Der lange Besen der Wissenschaft mußte zwar Sonne,
Mond und Gestirne stehen lassen, aber die tausend ätherischen Spin¬
neweben goldener Tradition und Mythe hat er glücklich aus dem
blauen Raum hinweggefegt. Unser Himmel ist nur noch ein physi¬
kalischer Begriff, oder poetisches Bild. In der That, was fällt bei
uns noch vom Himmel? Regen und Schnee, Blitz und Hagel, was
ist daran? Das sind Gaben, die der Kalender, als Steuereinnehmer,
regelmäßig berechnet; denn die Wolken und ihre Früchte bezieht der
Himmel erst von unserer Erde und gibt sie dann, nach den Gesetzen
der Naturindustrie gehörig verarbeitet, wieder zurück. D.is ist kein
Wunder. Selbst die Meteorsteine, die er manchmal regnet, sind ver¬
irrte Erdenkinder. Engel steigen nicht mehr nieder, und die Jakobs¬
leitern sieht man nur noch in lyrischen Gedichten. Höchstens fällt
einmal ein Gelehrter vom Himmel, und der fällt auf den Kopf.

Glücklicher Orient! Deine Menschen philosophiren nicht, rechnen


sie erschöpft und tragen kaum noch kranke Kartösfelchen, skrofulöse
und rachitische Kinder der Ausschweifung. Bald werden überall die
dürren Felsknochen durch die magere Haut der Erde hervorstechen.
Ja, auch die Leichen ruhen nicht mehr sicher in ihrem Schoße, denn
um die Flammen unserer Kamine zu nähren, müssen wir immer tiefer
in den Leib der Erde greifen und die schwarzen Friedhöfe früherer
Geschlechter aufwühlen. Mit dem verkohlten Mark und Gebein un¬
serer Väter stillen wir nothdürftig den Hunger unserer künstlichen
Geschöpfe, der eisernen Golems, die uns donnernd in eine schwin¬
delnde Zukunft tragen.

Der Orient hat noch Götter und Götzen; unsere Menschheit hat
keine mehr, denn sie ist selber Gott geworden; Gott und Teufel in
Einer Person. So löst sich der angebliche Widerspruch zwischen All¬
macht und Allgüte, neben so viel erbarmungsloser Ungerechtigkeit.
Kläglich genug, eine solche Gottheit, die durch täglichen Tod unsterb¬
lich, und deren Seligkeit in der Zukunft ist. Die Menschheit ist
Gott, aber die Menschen sind keine Götter; manchmal Halbgötter
und Halbterisel, sehr oft Opferpriester und meistens Opferthiere. Die
Bibel in der diese Offenbarung steht, die Geschichte, ist ergötzlich,
aber nicht erbaulich, und schöner zu lesen, als zu erleben: alle Reli¬
gionen, alle Künste sind nur eine tröstende Verhüllung dieser trauri¬
gen Erkenntniß. In allen Kirchen und Domen beten wir zu uns
selber, und sprechen von uns in der dritten Person. Die göttliche
Komödie der allen Glaubenskriege und Streitigkeiten wird fortge¬
spielt durch stillschweigendes EinVerständniß. Jeder weiß das Geheim¬
niß, aber Niemand soll es sagen; den Gedanken, daß sie sich selbst
überlassen ist, darf die Menschheit nicht laut aussprechen, denn in
dem Augenblick würde sie von Entsetzen ergrissen.

Ein dunkles Gefühl jedoch sagt uns, daß wir keinen eigentli¬
chen Himmel mehr haben. Unsere Thätigkeit hat ihn entkleidet und
leer gewaschen. Der lange Besen der Wissenschaft mußte zwar Sonne,
Mond und Gestirne stehen lassen, aber die tausend ätherischen Spin¬
neweben goldener Tradition und Mythe hat er glücklich aus dem
blauen Raum hinweggefegt. Unser Himmel ist nur noch ein physi¬
kalischer Begriff, oder poetisches Bild. In der That, was fällt bei
uns noch vom Himmel? Regen und Schnee, Blitz und Hagel, was
ist daran? Das sind Gaben, die der Kalender, als Steuereinnehmer,
regelmäßig berechnet; denn die Wolken und ihre Früchte bezieht der
Himmel erst von unserer Erde und gibt sie dann, nach den Gesetzen
der Naturindustrie gehörig verarbeitet, wieder zurück. D.is ist kein
Wunder. Selbst die Meteorsteine, die er manchmal regnet, sind ver¬
irrte Erdenkinder. Engel steigen nicht mehr nieder, und die Jakobs¬
leitern sieht man nur noch in lyrischen Gedichten. Höchstens fällt
einmal ein Gelehrter vom Himmel, und der fällt auf den Kopf.

Glücklicher Orient! Deine Menschen philosophiren nicht, rechnen


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[0476] sie erschöpft und tragen kaum noch kranke Kartösfelchen, skrofulöse und rachitische Kinder der Ausschweifung. Bald werden überall die dürren Felsknochen durch die magere Haut der Erde hervorstechen. Ja, auch die Leichen ruhen nicht mehr sicher in ihrem Schoße, denn um die Flammen unserer Kamine zu nähren, müssen wir immer tiefer in den Leib der Erde greifen und die schwarzen Friedhöfe früherer Geschlechter aufwühlen. Mit dem verkohlten Mark und Gebein un¬ serer Väter stillen wir nothdürftig den Hunger unserer künstlichen Geschöpfe, der eisernen Golems, die uns donnernd in eine schwin¬ delnde Zukunft tragen. Der Orient hat noch Götter und Götzen; unsere Menschheit hat keine mehr, denn sie ist selber Gott geworden; Gott und Teufel in Einer Person. So löst sich der angebliche Widerspruch zwischen All¬ macht und Allgüte, neben so viel erbarmungsloser Ungerechtigkeit. Kläglich genug, eine solche Gottheit, die durch täglichen Tod unsterb¬ lich, und deren Seligkeit in der Zukunft ist. Die Menschheit ist Gott, aber die Menschen sind keine Götter; manchmal Halbgötter und Halbterisel, sehr oft Opferpriester und meistens Opferthiere. Die Bibel in der diese Offenbarung steht, die Geschichte, ist ergötzlich, aber nicht erbaulich, und schöner zu lesen, als zu erleben: alle Reli¬ gionen, alle Künste sind nur eine tröstende Verhüllung dieser trauri¬ gen Erkenntniß. In allen Kirchen und Domen beten wir zu uns selber, und sprechen von uns in der dritten Person. Die göttliche Komödie der allen Glaubenskriege und Streitigkeiten wird fortge¬ spielt durch stillschweigendes EinVerständniß. Jeder weiß das Geheim¬ niß, aber Niemand soll es sagen; den Gedanken, daß sie sich selbst überlassen ist, darf die Menschheit nicht laut aussprechen, denn in dem Augenblick würde sie von Entsetzen ergrissen. Ein dunkles Gefühl jedoch sagt uns, daß wir keinen eigentli¬ chen Himmel mehr haben. Unsere Thätigkeit hat ihn entkleidet und leer gewaschen. Der lange Besen der Wissenschaft mußte zwar Sonne, Mond und Gestirne stehen lassen, aber die tausend ätherischen Spin¬ neweben goldener Tradition und Mythe hat er glücklich aus dem blauen Raum hinweggefegt. Unser Himmel ist nur noch ein physi¬ kalischer Begriff, oder poetisches Bild. In der That, was fällt bei uns noch vom Himmel? Regen und Schnee, Blitz und Hagel, was ist daran? Das sind Gaben, die der Kalender, als Steuereinnehmer, regelmäßig berechnet; denn die Wolken und ihre Früchte bezieht der Himmel erst von unserer Erde und gibt sie dann, nach den Gesetzen der Naturindustrie gehörig verarbeitet, wieder zurück. D.is ist kein Wunder. Selbst die Meteorsteine, die er manchmal regnet, sind ver¬ irrte Erdenkinder. Engel steigen nicht mehr nieder, und die Jakobs¬ leitern sieht man nur noch in lyrischen Gedichten. Höchstens fällt einmal ein Gelehrter vom Himmel, und der fällt auf den Kopf. Glücklicher Orient! Deine Menschen philosophiren nicht, rechnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/476>, abgerufen am 14.05.2024.