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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Die Zeit! Wer mißt den Schritt der unsichtbaren Göttin?
Da ist ein mächtiger Staat der sich lange gegen sie abschloß, wie
gegen die Cholera, und in dessen Mitte sie doch drang, und, gleich
der Cholera, die man als Geißel der untern armen Volksklassen
schilderte, welche an den Palästen der Großen wirkungslos vor¬
übergehe, hat sie ihren Ruf Lügen gestraft, überall ist sie einge¬
drungen, selbst durch die ängstlich verschlossenen Thüren und Her¬
zen der Machthaber ist sie geschlüpft und lagert sich auf ihren
Teppichen, in ihren Gedanken, in ihren Entschlüssen.

Wo ist die Zauberformel, welche den österreichischen Mittel¬
ständen mit jedem Tage neue Erkräftigung zuführt? In England
wuchs der Mittelstand durch die Macht der Gemeinde, durch die
Vertretung im Unterhaus".', durch die Sicherheit der. persönlichen
Freiheit, durch die Oeffentlichkeit in politischen und gerichtlichen
Verhandlungen. Selbst in Frankreich war er bereits vor der ersten
Revolution in seiner Entwicklung begünstigt. Die alte französische
Gemeindeverfassung hatte bereits vor 1789 dem Tiersetat zu einem
bedeutenden Grad bürgerlicher Freiheit verholfen, durch den ober¬
sten Gerichtshof (I<z n^-Je-molle) war allmählig eine bewußtvolle
Rechtssicherheit herangebildet, durch die Generalstaaten (les <5t"es
AtM"wuix) wuchs er zur politischen Macht. Wo sind die analo¬
gen Quellen aus denen er in Oesterreich sein Wachsthum erfrischt?
Die Gemeindeverfassungen und Stadtrechte sind allenthalben zur
leeren, halbvergessenen Form herabgesunken, der oberste Gerichts¬
hof (welcher mehr aus Herkommen, denn als Ironie umgekehrt
den Titel Hofjustizstclle führt) ist bei uns -- man muß gerecht
sein -- unbestechlicher als die Parlämentöräthe des alten Frank¬
reichs, aber seine Wirkungen werden durch den Wust der schrift¬
lichen Verhandlungen und durch die mannigfachen Einflüsse der
politischen Gewalt oft genug paralvsirt, unsere Ständeversammlun¬
gen endlich sind Postulatenlandtage, bei denen obendrein der dritte
Stand in wahlhast lächerlicher Minorität repräsentirt ist. Wo
sind nun die geheimnißvollen Keime, aus denen, trotz diesem Allen,
unser Mittelstand immer reicher sich entwickelt?

Der Mittelstand! Der Leser wird bemerken, daß ich das
Wort Bourgeoisie umgehe. Der "Bürger" macht bei uns noch nicht
den Mittelstand aus, er ist nur das Material, das Roheisen.


Die Zeit! Wer mißt den Schritt der unsichtbaren Göttin?
Da ist ein mächtiger Staat der sich lange gegen sie abschloß, wie
gegen die Cholera, und in dessen Mitte sie doch drang, und, gleich
der Cholera, die man als Geißel der untern armen Volksklassen
schilderte, welche an den Palästen der Großen wirkungslos vor¬
übergehe, hat sie ihren Ruf Lügen gestraft, überall ist sie einge¬
drungen, selbst durch die ängstlich verschlossenen Thüren und Her¬
zen der Machthaber ist sie geschlüpft und lagert sich auf ihren
Teppichen, in ihren Gedanken, in ihren Entschlüssen.

Wo ist die Zauberformel, welche den österreichischen Mittel¬
ständen mit jedem Tage neue Erkräftigung zuführt? In England
wuchs der Mittelstand durch die Macht der Gemeinde, durch die
Vertretung im Unterhaus«.', durch die Sicherheit der. persönlichen
Freiheit, durch die Oeffentlichkeit in politischen und gerichtlichen
Verhandlungen. Selbst in Frankreich war er bereits vor der ersten
Revolution in seiner Entwicklung begünstigt. Die alte französische
Gemeindeverfassung hatte bereits vor 1789 dem Tiersetat zu einem
bedeutenden Grad bürgerlicher Freiheit verholfen, durch den ober¬
sten Gerichtshof (I<z n^-Je-molle) war allmählig eine bewußtvolle
Rechtssicherheit herangebildet, durch die Generalstaaten (les <5t»es
AtM«wuix) wuchs er zur politischen Macht. Wo sind die analo¬
gen Quellen aus denen er in Oesterreich sein Wachsthum erfrischt?
Die Gemeindeverfassungen und Stadtrechte sind allenthalben zur
leeren, halbvergessenen Form herabgesunken, der oberste Gerichts¬
hof (welcher mehr aus Herkommen, denn als Ironie umgekehrt
den Titel Hofjustizstclle führt) ist bei uns — man muß gerecht
sein — unbestechlicher als die Parlämentöräthe des alten Frank¬
reichs, aber seine Wirkungen werden durch den Wust der schrift¬
lichen Verhandlungen und durch die mannigfachen Einflüsse der
politischen Gewalt oft genug paralvsirt, unsere Ständeversammlun¬
gen endlich sind Postulatenlandtage, bei denen obendrein der dritte
Stand in wahlhast lächerlicher Minorität repräsentirt ist. Wo
sind nun die geheimnißvollen Keime, aus denen, trotz diesem Allen,
unser Mittelstand immer reicher sich entwickelt?

Der Mittelstand! Der Leser wird bemerken, daß ich das
Wort Bourgeoisie umgehe. Der „Bürger" macht bei uns noch nicht
den Mittelstand aus, er ist nur das Material, das Roheisen.


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[0482] Die Zeit! Wer mißt den Schritt der unsichtbaren Göttin? Da ist ein mächtiger Staat der sich lange gegen sie abschloß, wie gegen die Cholera, und in dessen Mitte sie doch drang, und, gleich der Cholera, die man als Geißel der untern armen Volksklassen schilderte, welche an den Palästen der Großen wirkungslos vor¬ übergehe, hat sie ihren Ruf Lügen gestraft, überall ist sie einge¬ drungen, selbst durch die ängstlich verschlossenen Thüren und Her¬ zen der Machthaber ist sie geschlüpft und lagert sich auf ihren Teppichen, in ihren Gedanken, in ihren Entschlüssen. Wo ist die Zauberformel, welche den österreichischen Mittel¬ ständen mit jedem Tage neue Erkräftigung zuführt? In England wuchs der Mittelstand durch die Macht der Gemeinde, durch die Vertretung im Unterhaus«.', durch die Sicherheit der. persönlichen Freiheit, durch die Oeffentlichkeit in politischen und gerichtlichen Verhandlungen. Selbst in Frankreich war er bereits vor der ersten Revolution in seiner Entwicklung begünstigt. Die alte französische Gemeindeverfassung hatte bereits vor 1789 dem Tiersetat zu einem bedeutenden Grad bürgerlicher Freiheit verholfen, durch den ober¬ sten Gerichtshof (I<z n^-Je-molle) war allmählig eine bewußtvolle Rechtssicherheit herangebildet, durch die Generalstaaten (les <5t»es AtM«wuix) wuchs er zur politischen Macht. Wo sind die analo¬ gen Quellen aus denen er in Oesterreich sein Wachsthum erfrischt? Die Gemeindeverfassungen und Stadtrechte sind allenthalben zur leeren, halbvergessenen Form herabgesunken, der oberste Gerichts¬ hof (welcher mehr aus Herkommen, denn als Ironie umgekehrt den Titel Hofjustizstclle führt) ist bei uns — man muß gerecht sein — unbestechlicher als die Parlämentöräthe des alten Frank¬ reichs, aber seine Wirkungen werden durch den Wust der schrift¬ lichen Verhandlungen und durch die mannigfachen Einflüsse der politischen Gewalt oft genug paralvsirt, unsere Ständeversammlun¬ gen endlich sind Postulatenlandtage, bei denen obendrein der dritte Stand in wahlhast lächerlicher Minorität repräsentirt ist. Wo sind nun die geheimnißvollen Keime, aus denen, trotz diesem Allen, unser Mittelstand immer reicher sich entwickelt? Der Mittelstand! Der Leser wird bemerken, daß ich das Wort Bourgeoisie umgehe. Der „Bürger" macht bei uns noch nicht den Mittelstand aus, er ist nur das Material, das Roheisen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/482>, abgerufen am 15.05.2024.