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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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verlassen, der Art, daß die Gebildeten aller Stände dabei betheiligt
sind, und daß auch Zeitschriften, die jeder Fachgelehrsamkeit fern ste¬
hen, von demselben Notiz nehmen sollten, denn es behandelt einen Ge¬
genstand, der in alle Zweige socialer und politischer Bildung lebendig
eingreift; und das in einer Weise, die für den deutschen Leser einen
besondern Reiz hat. Man spricht bei uns neuerdings viel von der
nothwendigen Vermittlung zwischen Wissenschaft und Leben, und
wie selten versteht man es noch, diese Vermittlung herbeizuführen!
Es wird der deutschen Weisheit, beim besten Willen, unendlich schwer,
sich ein wenig herabzulassen, um dem Leben einen ganzen Schritt
entgegen zu thun. Darin haben wir noch viel vom Auslande zu
lernen. DaS Werk, welches uns zu den nachfolgenden Zeilen an¬
regt, scheint uns ein schönes und interessantes Beispiel, wie sich der
wissenschaftlichste Ernst mit einer ungemein populären und anziehen¬
den Tarstellung vereinen läßt.

Quetelet beginnt damit, eine Theorie, welche die größten For¬
scher, wie Leibnitz, Pascal und Newton beschäftigt hat, und welche
aller wissenschaftlichen Beobachtung zu Grunde liegt, die Theorie
der Wahrscheinlichkeiten so zu entwickeln, daß man kaum begreift,
wie man nicht selber längst auf sie gekommen ist. Während man
aber noch kaum die Wichtigkeit dieser Lehre ahnt, welche blos un¬
sern unphilosophischen Sprachgebrauch zu berichtigen scheint, sind
wir schon bei der Anwendung derselben, und überzeugen uns, daß
der gemeine Menschenverstand unwillkührlich jeden Augenblick von
ihr Gebrauch macht, so wie fast alle Erfahrungswissenschaften von
der Astronomie bis zur Botanik und alle socialen Einrichtungen,
von der Lotterie bis zur Dreifelderwirthschaft auf ihr beruhen. Die
Worte gewiß und unmöglich sind nur eine konventionelle Phrase,
eine sprachgebräuchliche Metapher; es giebt in der ganzen Erschei¬
nungswelt sehr wenig mathematische Wahrheiten, es giebt weder
absolute Gewißheit, noch absolute Unmöglichkeit, sondern nur sehr
große und sehr geringe Wahrscheinlichkeiten. Selbst die Ueberzeu¬
gung, die wir bei jedem Sonnenuntergang vom nächsten Sonnen¬
aufgang, und bei jeder Meeresebbe von der nächsten Flut haben,
beruht bloß auf einer Wahrscheinlichkeitsberechnung. Eben so we¬
nig aber giebt eS einen Zufall. "Das Wort Zufall dient nur zur
Verhüllung unserer Unwissenheit." -- "Wir glauben oft Alles sorg"


verlassen, der Art, daß die Gebildeten aller Stände dabei betheiligt
sind, und daß auch Zeitschriften, die jeder Fachgelehrsamkeit fern ste¬
hen, von demselben Notiz nehmen sollten, denn es behandelt einen Ge¬
genstand, der in alle Zweige socialer und politischer Bildung lebendig
eingreift; und das in einer Weise, die für den deutschen Leser einen
besondern Reiz hat. Man spricht bei uns neuerdings viel von der
nothwendigen Vermittlung zwischen Wissenschaft und Leben, und
wie selten versteht man es noch, diese Vermittlung herbeizuführen!
Es wird der deutschen Weisheit, beim besten Willen, unendlich schwer,
sich ein wenig herabzulassen, um dem Leben einen ganzen Schritt
entgegen zu thun. Darin haben wir noch viel vom Auslande zu
lernen. DaS Werk, welches uns zu den nachfolgenden Zeilen an¬
regt, scheint uns ein schönes und interessantes Beispiel, wie sich der
wissenschaftlichste Ernst mit einer ungemein populären und anziehen¬
den Tarstellung vereinen läßt.

Quetelet beginnt damit, eine Theorie, welche die größten For¬
scher, wie Leibnitz, Pascal und Newton beschäftigt hat, und welche
aller wissenschaftlichen Beobachtung zu Grunde liegt, die Theorie
der Wahrscheinlichkeiten so zu entwickeln, daß man kaum begreift,
wie man nicht selber längst auf sie gekommen ist. Während man
aber noch kaum die Wichtigkeit dieser Lehre ahnt, welche blos un¬
sern unphilosophischen Sprachgebrauch zu berichtigen scheint, sind
wir schon bei der Anwendung derselben, und überzeugen uns, daß
der gemeine Menschenverstand unwillkührlich jeden Augenblick von
ihr Gebrauch macht, so wie fast alle Erfahrungswissenschaften von
der Astronomie bis zur Botanik und alle socialen Einrichtungen,
von der Lotterie bis zur Dreifelderwirthschaft auf ihr beruhen. Die
Worte gewiß und unmöglich sind nur eine konventionelle Phrase,
eine sprachgebräuchliche Metapher; es giebt in der ganzen Erschei¬
nungswelt sehr wenig mathematische Wahrheiten, es giebt weder
absolute Gewißheit, noch absolute Unmöglichkeit, sondern nur sehr
große und sehr geringe Wahrscheinlichkeiten. Selbst die Ueberzeu¬
gung, die wir bei jedem Sonnenuntergang vom nächsten Sonnen¬
aufgang, und bei jeder Meeresebbe von der nächsten Flut haben,
beruht bloß auf einer Wahrscheinlichkeitsberechnung. Eben so we¬
nig aber giebt eS einen Zufall. „Das Wort Zufall dient nur zur
Verhüllung unserer Unwissenheit." — „Wir glauben oft Alles sorg»


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[0506] verlassen, der Art, daß die Gebildeten aller Stände dabei betheiligt sind, und daß auch Zeitschriften, die jeder Fachgelehrsamkeit fern ste¬ hen, von demselben Notiz nehmen sollten, denn es behandelt einen Ge¬ genstand, der in alle Zweige socialer und politischer Bildung lebendig eingreift; und das in einer Weise, die für den deutschen Leser einen besondern Reiz hat. Man spricht bei uns neuerdings viel von der nothwendigen Vermittlung zwischen Wissenschaft und Leben, und wie selten versteht man es noch, diese Vermittlung herbeizuführen! Es wird der deutschen Weisheit, beim besten Willen, unendlich schwer, sich ein wenig herabzulassen, um dem Leben einen ganzen Schritt entgegen zu thun. Darin haben wir noch viel vom Auslande zu lernen. DaS Werk, welches uns zu den nachfolgenden Zeilen an¬ regt, scheint uns ein schönes und interessantes Beispiel, wie sich der wissenschaftlichste Ernst mit einer ungemein populären und anziehen¬ den Tarstellung vereinen läßt. Quetelet beginnt damit, eine Theorie, welche die größten For¬ scher, wie Leibnitz, Pascal und Newton beschäftigt hat, und welche aller wissenschaftlichen Beobachtung zu Grunde liegt, die Theorie der Wahrscheinlichkeiten so zu entwickeln, daß man kaum begreift, wie man nicht selber längst auf sie gekommen ist. Während man aber noch kaum die Wichtigkeit dieser Lehre ahnt, welche blos un¬ sern unphilosophischen Sprachgebrauch zu berichtigen scheint, sind wir schon bei der Anwendung derselben, und überzeugen uns, daß der gemeine Menschenverstand unwillkührlich jeden Augenblick von ihr Gebrauch macht, so wie fast alle Erfahrungswissenschaften von der Astronomie bis zur Botanik und alle socialen Einrichtungen, von der Lotterie bis zur Dreifelderwirthschaft auf ihr beruhen. Die Worte gewiß und unmöglich sind nur eine konventionelle Phrase, eine sprachgebräuchliche Metapher; es giebt in der ganzen Erschei¬ nungswelt sehr wenig mathematische Wahrheiten, es giebt weder absolute Gewißheit, noch absolute Unmöglichkeit, sondern nur sehr große und sehr geringe Wahrscheinlichkeiten. Selbst die Ueberzeu¬ gung, die wir bei jedem Sonnenuntergang vom nächsten Sonnen¬ aufgang, und bei jeder Meeresebbe von der nächsten Flut haben, beruht bloß auf einer Wahrscheinlichkeitsberechnung. Eben so we¬ nig aber giebt eS einen Zufall. „Das Wort Zufall dient nur zur Verhüllung unserer Unwissenheit." — „Wir glauben oft Alles sorg»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/506>, abgerufen am 15.05.2024.