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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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und vernünftigere Jetztzeit unzurechnungsfähige Missethäter ins Ir¬
renhaus schickt. Endlich ist Eines nicht zu übersehen. In der gu¬
ten alten Zeit waren die Tollhäuser mehr Gefängnisse als Spitä¬
ler, mehr grausame Straf- als milde Heilanstalten; sie waren die
Holle auf Erden, und Jeder suchte die Seinigen, die das Unglück
des Wahnsinns getroffen hatte, ihnen zu entziehen; was heutzu¬
tage nicht mehr der Fall ist.

Andere Krankheiten dagegen, wie Hirnerweichung, Herzfehler
u. s. w. scheinen nur deshalb sich vermehrt zu haben, weil man
ihnen größere Aufmerksamkeit schenkt. Es ist wie mit der scheinba¬
ren Vermehrung der Verbrechen durch eine freie Presse, welche
Dinge an's Licht der Oeffentlichkeit zieht, die anderswo verborgen
bleiben. In unsern Registern, nicht aber in der Natur, sind die
Herzkrankheiten seit Corvisart häufiger geworden. Wer wird im
Ernst behaupten wollen, daß die Hirnerweichung erst seit der Zeit
existirt, wo man ihre Diagnose zu machen gelernt hat? Das wäre,
wie wenn man sagen wollte, es habe nie so viel geregnet, als seit¬
dem es Observatorien gibt, wo man täglich das vom Himmel fal¬
lende'Wasserquantum mißt. Ein schlagendes Beispiel gibt die Thier¬
arzneikunde. Diese Kunst hat in Kurzem große Fortschritte ge¬
macht; man behandelt jetzt eine viel größere Anzahl kranker Thiere
als sonst, und der nosologische Katalog wird von Tage zu Tage
mit neuen Krankheitsnamen bereichert, die sonst nicht darin figu-
rirten. Wird man deshalb behaupten wollen, daß die Thierwelt
früher niemals erkrankte, oder daß die Thiergattungen, die doch
weder studiren, noch eine raffinirte Civilisation besitzen, ausgear¬
tet sind?

Will man zuletzt specielle einzelne Krankheiten anführen, die
manchem Industriezweig anhaften, wie die Bleikolik, die Quecksil¬
berleiden Zc., Krankheiten die in der That zuweilen im erschrecken¬
den Maß anwachsen, -- woran liegt hier die Schuld als an dem
Umstand, daß in unserer Zeit mehr Menschen als sonst Blei und
Quecksilber graben oder bearbeiten? Und auch über diese Krank¬
heiten hat die Medicin bereits schöne Triumphe gefeiert. Seit der
Anwendung des Eisens gegen die speciellen Leiden der Vergolder,
wird die Queckstlberkrankheit schnell geheilt, und die Vervollkomm¬
nung der Instrumente macht sogar die Erscheinung derselben lag-


und vernünftigere Jetztzeit unzurechnungsfähige Missethäter ins Ir¬
renhaus schickt. Endlich ist Eines nicht zu übersehen. In der gu¬
ten alten Zeit waren die Tollhäuser mehr Gefängnisse als Spitä¬
ler, mehr grausame Straf- als milde Heilanstalten; sie waren die
Holle auf Erden, und Jeder suchte die Seinigen, die das Unglück
des Wahnsinns getroffen hatte, ihnen zu entziehen; was heutzu¬
tage nicht mehr der Fall ist.

Andere Krankheiten dagegen, wie Hirnerweichung, Herzfehler
u. s. w. scheinen nur deshalb sich vermehrt zu haben, weil man
ihnen größere Aufmerksamkeit schenkt. Es ist wie mit der scheinba¬
ren Vermehrung der Verbrechen durch eine freie Presse, welche
Dinge an's Licht der Oeffentlichkeit zieht, die anderswo verborgen
bleiben. In unsern Registern, nicht aber in der Natur, sind die
Herzkrankheiten seit Corvisart häufiger geworden. Wer wird im
Ernst behaupten wollen, daß die Hirnerweichung erst seit der Zeit
existirt, wo man ihre Diagnose zu machen gelernt hat? Das wäre,
wie wenn man sagen wollte, es habe nie so viel geregnet, als seit¬
dem es Observatorien gibt, wo man täglich das vom Himmel fal¬
lende'Wasserquantum mißt. Ein schlagendes Beispiel gibt die Thier¬
arzneikunde. Diese Kunst hat in Kurzem große Fortschritte ge¬
macht; man behandelt jetzt eine viel größere Anzahl kranker Thiere
als sonst, und der nosologische Katalog wird von Tage zu Tage
mit neuen Krankheitsnamen bereichert, die sonst nicht darin figu-
rirten. Wird man deshalb behaupten wollen, daß die Thierwelt
früher niemals erkrankte, oder daß die Thiergattungen, die doch
weder studiren, noch eine raffinirte Civilisation besitzen, ausgear¬
tet sind?

Will man zuletzt specielle einzelne Krankheiten anführen, die
manchem Industriezweig anhaften, wie die Bleikolik, die Quecksil¬
berleiden Zc., Krankheiten die in der That zuweilen im erschrecken¬
den Maß anwachsen, — woran liegt hier die Schuld als an dem
Umstand, daß in unserer Zeit mehr Menschen als sonst Blei und
Quecksilber graben oder bearbeiten? Und auch über diese Krank¬
heiten hat die Medicin bereits schöne Triumphe gefeiert. Seit der
Anwendung des Eisens gegen die speciellen Leiden der Vergolder,
wird die Queckstlberkrankheit schnell geheilt, und die Vervollkomm¬
nung der Instrumente macht sogar die Erscheinung derselben lag-


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[0540] und vernünftigere Jetztzeit unzurechnungsfähige Missethäter ins Ir¬ renhaus schickt. Endlich ist Eines nicht zu übersehen. In der gu¬ ten alten Zeit waren die Tollhäuser mehr Gefängnisse als Spitä¬ ler, mehr grausame Straf- als milde Heilanstalten; sie waren die Holle auf Erden, und Jeder suchte die Seinigen, die das Unglück des Wahnsinns getroffen hatte, ihnen zu entziehen; was heutzu¬ tage nicht mehr der Fall ist. Andere Krankheiten dagegen, wie Hirnerweichung, Herzfehler u. s. w. scheinen nur deshalb sich vermehrt zu haben, weil man ihnen größere Aufmerksamkeit schenkt. Es ist wie mit der scheinba¬ ren Vermehrung der Verbrechen durch eine freie Presse, welche Dinge an's Licht der Oeffentlichkeit zieht, die anderswo verborgen bleiben. In unsern Registern, nicht aber in der Natur, sind die Herzkrankheiten seit Corvisart häufiger geworden. Wer wird im Ernst behaupten wollen, daß die Hirnerweichung erst seit der Zeit existirt, wo man ihre Diagnose zu machen gelernt hat? Das wäre, wie wenn man sagen wollte, es habe nie so viel geregnet, als seit¬ dem es Observatorien gibt, wo man täglich das vom Himmel fal¬ lende'Wasserquantum mißt. Ein schlagendes Beispiel gibt die Thier¬ arzneikunde. Diese Kunst hat in Kurzem große Fortschritte ge¬ macht; man behandelt jetzt eine viel größere Anzahl kranker Thiere als sonst, und der nosologische Katalog wird von Tage zu Tage mit neuen Krankheitsnamen bereichert, die sonst nicht darin figu- rirten. Wird man deshalb behaupten wollen, daß die Thierwelt früher niemals erkrankte, oder daß die Thiergattungen, die doch weder studiren, noch eine raffinirte Civilisation besitzen, ausgear¬ tet sind? Will man zuletzt specielle einzelne Krankheiten anführen, die manchem Industriezweig anhaften, wie die Bleikolik, die Quecksil¬ berleiden Zc., Krankheiten die in der That zuweilen im erschrecken¬ den Maß anwachsen, — woran liegt hier die Schuld als an dem Umstand, daß in unserer Zeit mehr Menschen als sonst Blei und Quecksilber graben oder bearbeiten? Und auch über diese Krank¬ heiten hat die Medicin bereits schöne Triumphe gefeiert. Seit der Anwendung des Eisens gegen die speciellen Leiden der Vergolder, wird die Queckstlberkrankheit schnell geheilt, und die Vervollkomm¬ nung der Instrumente macht sogar die Erscheinung derselben lag-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/540>, abgerufen am 09.06.2024.