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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Gisenach und Wartburg.
Zsus einem Reisetagebuche.



Eisenach ist eine nette, freundliche Stadt, und sie hätte gewiß einen
rein poetischen wohlthuenden Eindruck aus mich gemacht, wenn mir nicht
gleich bei der Einfahrt eine Schaar uniformirter, weiblicher Sträflinge
begegnet wäre, die die Gassen putzten. Man stellt sich das uralte
Eisenach gewöhnlich düster und mittelalterlich vor -- aber es ist eine
eigene Sache mit den alten Städten. Es geht mit ihnen, wie mit
den Menschen: Die älteste", Ueberreste einer stärkern Generation, ge¬
hen stark und stolz, mit jedem Frühling neu erblühend, einher und
wenn sie sterben, sterben sie jung! während die jungen, alt geboren,
alternd aufwachsen und früh blasirt und zerrissen wie schlecht ge¬
baute Häuser bald einer Stütze bedürfen. -- Willst du Näheres über
Eisenach erfahren, so brauchst du nur Ludwig Bechstein nachzulesen;
ich weiß es zwar nicht mit Bestimmtheit, aber'ich setze es voraus, daß
er auch über Eisenach geschrieben, denn seinem Scepter, das ist, seiner
Feder, gehört jeder Stein in Thüringen, das er als Poet, Märchen¬
erzähler und Beschreiber mit bewunderungswürdigem Fleiße ausbeutet.
Du wirst es schon bemerkt haben, wie die einzelnen Gauen Deutsch¬
lands einzelnen Poeten angehören: Baiern, daS versteht sich von selbst,
gehört seinem Könige; Schwaben beherrscht mit seinein mystischen
Mistelzweige der alte König Uhland, in Verbindung mit seinen roman
dischen Vasallen, in neuerer Zeit kam jedoch noch der biedere Dorf¬
schulze Berthold hinzu; ganz Jnnerösterrcich gehört Anastasius Grün;
am Rhein stehen viele romantische Burgen; in Westphalen ist Immer¬
mann eingewandert und hat es erobert, seit seinem Tode hat sich
Levin Schücking dort einen Thurm erbaut und Fräulein Droste führt
ein Frauenregiment; der Brandenburger Sand gehört seinen Kopten


Wrcnzboten, I8"0. it. 23
Gisenach und Wartburg.
Zsus einem Reisetagebuche.



Eisenach ist eine nette, freundliche Stadt, und sie hätte gewiß einen
rein poetischen wohlthuenden Eindruck aus mich gemacht, wenn mir nicht
gleich bei der Einfahrt eine Schaar uniformirter, weiblicher Sträflinge
begegnet wäre, die die Gassen putzten. Man stellt sich das uralte
Eisenach gewöhnlich düster und mittelalterlich vor — aber es ist eine
eigene Sache mit den alten Städten. Es geht mit ihnen, wie mit
den Menschen: Die älteste», Ueberreste einer stärkern Generation, ge¬
hen stark und stolz, mit jedem Frühling neu erblühend, einher und
wenn sie sterben, sterben sie jung! während die jungen, alt geboren,
alternd aufwachsen und früh blasirt und zerrissen wie schlecht ge¬
baute Häuser bald einer Stütze bedürfen. — Willst du Näheres über
Eisenach erfahren, so brauchst du nur Ludwig Bechstein nachzulesen;
ich weiß es zwar nicht mit Bestimmtheit, aber'ich setze es voraus, daß
er auch über Eisenach geschrieben, denn seinem Scepter, das ist, seiner
Feder, gehört jeder Stein in Thüringen, das er als Poet, Märchen¬
erzähler und Beschreiber mit bewunderungswürdigem Fleiße ausbeutet.
Du wirst es schon bemerkt haben, wie die einzelnen Gauen Deutsch¬
lands einzelnen Poeten angehören: Baiern, daS versteht sich von selbst,
gehört seinem Könige; Schwaben beherrscht mit seinein mystischen
Mistelzweige der alte König Uhland, in Verbindung mit seinen roman
dischen Vasallen, in neuerer Zeit kam jedoch noch der biedere Dorf¬
schulze Berthold hinzu; ganz Jnnerösterrcich gehört Anastasius Grün;
am Rhein stehen viele romantische Burgen; in Westphalen ist Immer¬
mann eingewandert und hat es erobert, seit seinem Tode hat sich
Levin Schücking dort einen Thurm erbaut und Fräulein Droste führt
ein Frauenregiment; der Brandenburger Sand gehört seinen Kopten


Wrcnzboten, I8«0. it. 23
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[0189] Gisenach und Wartburg. Zsus einem Reisetagebuche. Eisenach ist eine nette, freundliche Stadt, und sie hätte gewiß einen rein poetischen wohlthuenden Eindruck aus mich gemacht, wenn mir nicht gleich bei der Einfahrt eine Schaar uniformirter, weiblicher Sträflinge begegnet wäre, die die Gassen putzten. Man stellt sich das uralte Eisenach gewöhnlich düster und mittelalterlich vor — aber es ist eine eigene Sache mit den alten Städten. Es geht mit ihnen, wie mit den Menschen: Die älteste», Ueberreste einer stärkern Generation, ge¬ hen stark und stolz, mit jedem Frühling neu erblühend, einher und wenn sie sterben, sterben sie jung! während die jungen, alt geboren, alternd aufwachsen und früh blasirt und zerrissen wie schlecht ge¬ baute Häuser bald einer Stütze bedürfen. — Willst du Näheres über Eisenach erfahren, so brauchst du nur Ludwig Bechstein nachzulesen; ich weiß es zwar nicht mit Bestimmtheit, aber'ich setze es voraus, daß er auch über Eisenach geschrieben, denn seinem Scepter, das ist, seiner Feder, gehört jeder Stein in Thüringen, das er als Poet, Märchen¬ erzähler und Beschreiber mit bewunderungswürdigem Fleiße ausbeutet. Du wirst es schon bemerkt haben, wie die einzelnen Gauen Deutsch¬ lands einzelnen Poeten angehören: Baiern, daS versteht sich von selbst, gehört seinem Könige; Schwaben beherrscht mit seinein mystischen Mistelzweige der alte König Uhland, in Verbindung mit seinen roman dischen Vasallen, in neuerer Zeit kam jedoch noch der biedere Dorf¬ schulze Berthold hinzu; ganz Jnnerösterrcich gehört Anastasius Grün; am Rhein stehen viele romantische Burgen; in Westphalen ist Immer¬ mann eingewandert und hat es erobert, seit seinem Tode hat sich Levin Schücking dort einen Thurm erbaut und Fräulein Droste führt ein Frauenregiment; der Brandenburger Sand gehört seinen Kopten Wrcnzboten, I8«0. it. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/189>, abgerufen am 29.04.2024.