Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Er fuhr in die breite, sandige Dorfstraße el"; noch standen die
weniger alten Rüstern, die er als Knabe gekannt, ein Paar Gehöfte,
grau verräuchert, erschienen ihm auch noch, wie vor vierzig Jahren,
aber die meisten waren anders, wenn auch nicht besser, aufgebaut, und
die Kirche ebenfalls, das that ihm am wehsten. Sonst hatte ein al¬
tes, bemoostes Gebäude mit Spitzbogenthür und dergleichen Fenstern
dagestanden, von einem steilen Dache mit dem Storchnest und einem
stumpfen Glockenthuune überragt, der Greis war darin getauft und
confirmirt worden. Jetzt lag ein braungelb angestrichenes, mit neuen
Ziegeln gedecktes, großfensteriges Haus da, unter einem kleinen vier¬
eckigen Thurme, das war die neue Kirche. Der Fuhrmann sagte, die
alte habe dem Einsturz gedroht.

Unter den Leuten, welche den Wagen anglotzten, waren auch Greise,
so alt wie der Reisende, aber Niemand grüßte ihn, wie auch er kei¬
nen Einzigen erkannte.

"Wohnt hier eine gewisse Hobländer?" fragte er endlich einen
Mann, der nähe genug vorbeiging. -- "Die Hobländer'n? Die wohnt
ganz draußen, im letzten Hause," sagte der Bauer, flüchtig die Mütze
rückend.

Und als dieser den Nächsten, die ihn neugierig umfragten, erzählte,
daß der Fremde sich nach der Holländerin erkundigt habe, hieß es!
Aha! Die wird nun auch abgeholt. Das ist gewiß der Acmarius,
der wird sie nun auch einstecken. Sie liegt der Gemeinde doch nur
zur Last, seit sie wiedergekommen ist.

Der Reisende war unterdessen an das äußerste Ende des Dorfes
gelangt, wo ein kleines, ärmliches Haus stand. Er ließ den Wagen
in einiger Entfernung halten und stieg aus. Die Umgebung der
Hütte bot einen traurigen Anblick. Der kleine, mit einem liederlich
gehaltenen Zaune eingefaßte Garten war mit Kartoffeln bestellt, welche
im Sande vor der anhaltenden Dürre die Köpfe hingen. An der
Thür stand der Greis plötzlich still, denn er hörte im Innern des
Häuschens singen. ES war eine jugendliche Stimme, ungekünstelt,
aber so süß und rein, wie wir sie nicht selten unter den Naturkindern
vernehmen, aber nicht das war es, was den Geist so tiefbewegte,
sondern das Lied selbst: eines jener uralten Wiegenlieder des Volkes,
mit welchem ihn seine eigene Mutter noch in Jahren der erwachten
Knabenvernunft, wenn er krank war, in Schlaf gesungen hatte. Er
öffnete die Thüre mit raschem Drucke und trat ein.

Der Gesang verstummte augenblicklich. Beim unklaren Lichte,


Er fuhr in die breite, sandige Dorfstraße el»; noch standen die
weniger alten Rüstern, die er als Knabe gekannt, ein Paar Gehöfte,
grau verräuchert, erschienen ihm auch noch, wie vor vierzig Jahren,
aber die meisten waren anders, wenn auch nicht besser, aufgebaut, und
die Kirche ebenfalls, das that ihm am wehsten. Sonst hatte ein al¬
tes, bemoostes Gebäude mit Spitzbogenthür und dergleichen Fenstern
dagestanden, von einem steilen Dache mit dem Storchnest und einem
stumpfen Glockenthuune überragt, der Greis war darin getauft und
confirmirt worden. Jetzt lag ein braungelb angestrichenes, mit neuen
Ziegeln gedecktes, großfensteriges Haus da, unter einem kleinen vier¬
eckigen Thurme, das war die neue Kirche. Der Fuhrmann sagte, die
alte habe dem Einsturz gedroht.

Unter den Leuten, welche den Wagen anglotzten, waren auch Greise,
so alt wie der Reisende, aber Niemand grüßte ihn, wie auch er kei¬
nen Einzigen erkannte.

„Wohnt hier eine gewisse Hobländer?" fragte er endlich einen
Mann, der nähe genug vorbeiging. — „Die Hobländer'n? Die wohnt
ganz draußen, im letzten Hause," sagte der Bauer, flüchtig die Mütze
rückend.

Und als dieser den Nächsten, die ihn neugierig umfragten, erzählte,
daß der Fremde sich nach der Holländerin erkundigt habe, hieß es!
Aha! Die wird nun auch abgeholt. Das ist gewiß der Acmarius,
der wird sie nun auch einstecken. Sie liegt der Gemeinde doch nur
zur Last, seit sie wiedergekommen ist.

Der Reisende war unterdessen an das äußerste Ende des Dorfes
gelangt, wo ein kleines, ärmliches Haus stand. Er ließ den Wagen
in einiger Entfernung halten und stieg aus. Die Umgebung der
Hütte bot einen traurigen Anblick. Der kleine, mit einem liederlich
gehaltenen Zaune eingefaßte Garten war mit Kartoffeln bestellt, welche
im Sande vor der anhaltenden Dürre die Köpfe hingen. An der
Thür stand der Greis plötzlich still, denn er hörte im Innern des
Häuschens singen. ES war eine jugendliche Stimme, ungekünstelt,
aber so süß und rein, wie wir sie nicht selten unter den Naturkindern
vernehmen, aber nicht das war es, was den Geist so tiefbewegte,
sondern das Lied selbst: eines jener uralten Wiegenlieder des Volkes,
mit welchem ihn seine eigene Mutter noch in Jahren der erwachten
Knabenvernunft, wenn er krank war, in Schlaf gesungen hatte. Er
öffnete die Thüre mit raschem Drucke und trat ein.

Der Gesang verstummte augenblicklich. Beim unklaren Lichte,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0208" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182631"/>
            <p xml:id="ID_548"> Er fuhr in die breite, sandige Dorfstraße el»; noch standen die<lb/>
weniger alten Rüstern, die er als Knabe gekannt, ein Paar Gehöfte,<lb/>
grau verräuchert, erschienen ihm auch noch, wie vor vierzig Jahren,<lb/>
aber die meisten waren anders, wenn auch nicht besser, aufgebaut, und<lb/>
die Kirche ebenfalls, das that ihm am wehsten. Sonst hatte ein al¬<lb/>
tes, bemoostes Gebäude mit Spitzbogenthür und dergleichen Fenstern<lb/>
dagestanden, von einem steilen Dache mit dem Storchnest und einem<lb/>
stumpfen Glockenthuune überragt, der Greis war darin getauft und<lb/>
confirmirt worden. Jetzt lag ein braungelb angestrichenes, mit neuen<lb/>
Ziegeln gedecktes, großfensteriges Haus da, unter einem kleinen vier¬<lb/>
eckigen Thurme, das war die neue Kirche. Der Fuhrmann sagte, die<lb/>
alte habe dem Einsturz gedroht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_549"> Unter den Leuten, welche den Wagen anglotzten, waren auch Greise,<lb/>
so alt wie der Reisende, aber Niemand grüßte ihn, wie auch er kei¬<lb/>
nen Einzigen erkannte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_550"> &#x201E;Wohnt hier eine gewisse Hobländer?" fragte er endlich einen<lb/>
Mann, der nähe genug vorbeiging. &#x2014; &#x201E;Die Hobländer'n? Die wohnt<lb/>
ganz draußen, im letzten Hause," sagte der Bauer, flüchtig die Mütze<lb/>
rückend.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_551"> Und als dieser den Nächsten, die ihn neugierig umfragten, erzählte,<lb/>
daß der Fremde sich nach der Holländerin erkundigt habe, hieß es!<lb/>
Aha! Die wird nun auch abgeholt. Das ist gewiß der Acmarius,<lb/>
der wird sie nun auch einstecken. Sie liegt der Gemeinde doch nur<lb/>
zur Last, seit sie wiedergekommen ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_552"> Der Reisende war unterdessen an das äußerste Ende des Dorfes<lb/>
gelangt, wo ein kleines, ärmliches Haus stand. Er ließ den Wagen<lb/>
in einiger Entfernung halten und stieg aus. Die Umgebung der<lb/>
Hütte bot einen traurigen Anblick. Der kleine, mit einem liederlich<lb/>
gehaltenen Zaune eingefaßte Garten war mit Kartoffeln bestellt, welche<lb/>
im Sande vor der anhaltenden Dürre die Köpfe hingen. An der<lb/>
Thür stand der Greis plötzlich still, denn er hörte im Innern des<lb/>
Häuschens singen. ES war eine jugendliche Stimme, ungekünstelt,<lb/>
aber so süß und rein, wie wir sie nicht selten unter den Naturkindern<lb/>
vernehmen, aber nicht das war es, was den Geist so tiefbewegte,<lb/>
sondern das Lied selbst: eines jener uralten Wiegenlieder des Volkes,<lb/>
mit welchem ihn seine eigene Mutter noch in Jahren der erwachten<lb/>
Knabenvernunft, wenn er krank war, in Schlaf gesungen hatte. Er<lb/>
öffnete die Thüre mit raschem Drucke und trat ein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_553" next="#ID_554"> Der Gesang verstummte augenblicklich.  Beim unklaren Lichte,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0208] Er fuhr in die breite, sandige Dorfstraße el»; noch standen die weniger alten Rüstern, die er als Knabe gekannt, ein Paar Gehöfte, grau verräuchert, erschienen ihm auch noch, wie vor vierzig Jahren, aber die meisten waren anders, wenn auch nicht besser, aufgebaut, und die Kirche ebenfalls, das that ihm am wehsten. Sonst hatte ein al¬ tes, bemoostes Gebäude mit Spitzbogenthür und dergleichen Fenstern dagestanden, von einem steilen Dache mit dem Storchnest und einem stumpfen Glockenthuune überragt, der Greis war darin getauft und confirmirt worden. Jetzt lag ein braungelb angestrichenes, mit neuen Ziegeln gedecktes, großfensteriges Haus da, unter einem kleinen vier¬ eckigen Thurme, das war die neue Kirche. Der Fuhrmann sagte, die alte habe dem Einsturz gedroht. Unter den Leuten, welche den Wagen anglotzten, waren auch Greise, so alt wie der Reisende, aber Niemand grüßte ihn, wie auch er kei¬ nen Einzigen erkannte. „Wohnt hier eine gewisse Hobländer?" fragte er endlich einen Mann, der nähe genug vorbeiging. — „Die Hobländer'n? Die wohnt ganz draußen, im letzten Hause," sagte der Bauer, flüchtig die Mütze rückend. Und als dieser den Nächsten, die ihn neugierig umfragten, erzählte, daß der Fremde sich nach der Holländerin erkundigt habe, hieß es! Aha! Die wird nun auch abgeholt. Das ist gewiß der Acmarius, der wird sie nun auch einstecken. Sie liegt der Gemeinde doch nur zur Last, seit sie wiedergekommen ist. Der Reisende war unterdessen an das äußerste Ende des Dorfes gelangt, wo ein kleines, ärmliches Haus stand. Er ließ den Wagen in einiger Entfernung halten und stieg aus. Die Umgebung der Hütte bot einen traurigen Anblick. Der kleine, mit einem liederlich gehaltenen Zaune eingefaßte Garten war mit Kartoffeln bestellt, welche im Sande vor der anhaltenden Dürre die Köpfe hingen. An der Thür stand der Greis plötzlich still, denn er hörte im Innern des Häuschens singen. ES war eine jugendliche Stimme, ungekünstelt, aber so süß und rein, wie wir sie nicht selten unter den Naturkindern vernehmen, aber nicht das war es, was den Geist so tiefbewegte, sondern das Lied selbst: eines jener uralten Wiegenlieder des Volkes, mit welchem ihn seine eigene Mutter noch in Jahren der erwachten Knabenvernunft, wenn er krank war, in Schlaf gesungen hatte. Er öffnete die Thüre mit raschem Drucke und trat ein. Der Gesang verstummte augenblicklich. Beim unklaren Lichte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/208
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/208>, abgerufen am 27.04.2024.