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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Ungemeines Aussehen hat die Abstention des ehrenhaften und sonst
so unzweifelhaft katholischen Herrn de Decker gemacht. Er erklärte sei¬
nen Rückhalt damit/ daß er das katholische Ministerium für einen Ana¬
chronismus, wenn nicht für eine Herausforderung halte. Dies ist
der Schwanengesang des politischen Katholicismus in Belgien.

Während dieser langen, merkwürdigen Discussion waren die Tribü¬
nen gedrängt voll und die reservirte besonders cipplaudirte die liberalen
Redner nach Kräften. Der Präsident hatte gut den Applaus einemal
verbieten, dann den Artikel des Reglements vorlesen, welcher ihn in der¬
gleichen Fällen berechtigt, das Publicum durch die öffentliche Gewalt
hinausführen zu lassen, er hatte gut, als zum dritten Mal der Se¬
gen von oben etwas laut sich äußerte, streng erklären: "das erste Mal,
so diese Störung sich wiederholt, werde ich die Tribünen räumen lassen,"
es hals Alles nichts. Man weiß, daß man für die reservirte Tribüne
Karten von den Deputaten haben muß, doch die Majorität der Kam¬
mer, also auch der Karten, ist katholisch. Warum.wurden nun die Mi¬
nister und ihre Vertreter nicht auch applaudirt? Wie? Sollte die öf¬
fentliche Meinung in dem ruhigen Belgien still aber entschieden liberal
sein? Sollten die spärlich zerstreuten Gegner ihren Irrglauben nicht
einzugestehn wagen und sich ihrer etwaigen Sympathien schämen?

Der Präsident der Kammer übrigens, Herr Lieots, Gouverneur
der Provinz Brabant, hat auch gegen das Ministerium votirt und seine
Vorliebe für die Partei des Fortschritts überhaupt nicht verbergen können.

Zu der neuen Opposition gehört ferner der General Goblet, frü¬
herer College des Herrn Nothomb, und noch immer Flügeladjutant
des Königs! Der General Chazal, welcher Kriegsminister unter Herrn
Rogier gewesen wäre, und es noch ein Mal sein wird, ist vom Könige zum
Marechal de Camp ernannt worden. So fehlt den Politisch-Katholiken Bel¬
giens der irdische Halt: möchten sie nur unterdeß nicht auch den Himmel
verscherzen.

Sollich Ihnen von der kläglichen Retsin-Geschieb te sprechen, von
diesem Reliquicnhändler, in dessen Keller man einen Hirnschädel, s"inde
DorotKvv bezeichnet, gesunden, der einem Mannskopfe angehört, nebst
Kaninchcnknochen, womit er seine heiligen Reste fabricirt i Soll ich Ih¬
nen wiederholen, wie der Justizminister denselben, da er wegen Entwer¬
tung öffentlicher Gelder verurtheilt, widergesetzlich freigelassen, wie die
saubere Geschichte von dem heftigen Herrn Versaegen, aber auch dem
sanften, gemäßigten, ernsten Herrn Dolez von Mons der Kammer er¬
zählt, was dem Ministerium seine besten Freunde entfremdet? Sie wis¬
sen das Alles schon durch die Zeitungen und wendet man gern seinen
Blick von einem Ereignis;, welches ganz Belgien so sehr empörte. Es
bestätigt diese Geschichte indeß von Neuem, daß die Berechnungen in der
Politik leicht fehlschlagen. Man verrammelt sich mit großer Anstrengung
gegen die andringende Fluth und tief unten öffnet sich ungesehen eine
Spalte, durch die das Wasser leise einstießt und den Boden wie die
Wände des Schiffes bedrohlich unterhöhlt.


Ungemeines Aussehen hat die Abstention des ehrenhaften und sonst
so unzweifelhaft katholischen Herrn de Decker gemacht. Er erklärte sei¬
nen Rückhalt damit/ daß er das katholische Ministerium für einen Ana¬
chronismus, wenn nicht für eine Herausforderung halte. Dies ist
der Schwanengesang des politischen Katholicismus in Belgien.

Während dieser langen, merkwürdigen Discussion waren die Tribü¬
nen gedrängt voll und die reservirte besonders cipplaudirte die liberalen
Redner nach Kräften. Der Präsident hatte gut den Applaus einemal
verbieten, dann den Artikel des Reglements vorlesen, welcher ihn in der¬
gleichen Fällen berechtigt, das Publicum durch die öffentliche Gewalt
hinausführen zu lassen, er hatte gut, als zum dritten Mal der Se¬
gen von oben etwas laut sich äußerte, streng erklären: „das erste Mal,
so diese Störung sich wiederholt, werde ich die Tribünen räumen lassen,"
es hals Alles nichts. Man weiß, daß man für die reservirte Tribüne
Karten von den Deputaten haben muß, doch die Majorität der Kam¬
mer, also auch der Karten, ist katholisch. Warum.wurden nun die Mi¬
nister und ihre Vertreter nicht auch applaudirt? Wie? Sollte die öf¬
fentliche Meinung in dem ruhigen Belgien still aber entschieden liberal
sein? Sollten die spärlich zerstreuten Gegner ihren Irrglauben nicht
einzugestehn wagen und sich ihrer etwaigen Sympathien schämen?

Der Präsident der Kammer übrigens, Herr Lieots, Gouverneur
der Provinz Brabant, hat auch gegen das Ministerium votirt und seine
Vorliebe für die Partei des Fortschritts überhaupt nicht verbergen können.

Zu der neuen Opposition gehört ferner der General Goblet, frü¬
herer College des Herrn Nothomb, und noch immer Flügeladjutant
des Königs! Der General Chazal, welcher Kriegsminister unter Herrn
Rogier gewesen wäre, und es noch ein Mal sein wird, ist vom Könige zum
Marechal de Camp ernannt worden. So fehlt den Politisch-Katholiken Bel¬
giens der irdische Halt: möchten sie nur unterdeß nicht auch den Himmel
verscherzen.

Sollich Ihnen von der kläglichen Retsin-Geschieb te sprechen, von
diesem Reliquicnhändler, in dessen Keller man einen Hirnschädel, s»inde
DorotKvv bezeichnet, gesunden, der einem Mannskopfe angehört, nebst
Kaninchcnknochen, womit er seine heiligen Reste fabricirt i Soll ich Ih¬
nen wiederholen, wie der Justizminister denselben, da er wegen Entwer¬
tung öffentlicher Gelder verurtheilt, widergesetzlich freigelassen, wie die
saubere Geschichte von dem heftigen Herrn Versaegen, aber auch dem
sanften, gemäßigten, ernsten Herrn Dolez von Mons der Kammer er¬
zählt, was dem Ministerium seine besten Freunde entfremdet? Sie wis¬
sen das Alles schon durch die Zeitungen und wendet man gern seinen
Blick von einem Ereignis;, welches ganz Belgien so sehr empörte. Es
bestätigt diese Geschichte indeß von Neuem, daß die Berechnungen in der
Politik leicht fehlschlagen. Man verrammelt sich mit großer Anstrengung
gegen die andringende Fluth und tief unten öffnet sich ungesehen eine
Spalte, durch die das Wasser leise einstießt und den Boden wie die
Wände des Schiffes bedrohlich unterhöhlt.


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[0274] Ungemeines Aussehen hat die Abstention des ehrenhaften und sonst so unzweifelhaft katholischen Herrn de Decker gemacht. Er erklärte sei¬ nen Rückhalt damit/ daß er das katholische Ministerium für einen Ana¬ chronismus, wenn nicht für eine Herausforderung halte. Dies ist der Schwanengesang des politischen Katholicismus in Belgien. Während dieser langen, merkwürdigen Discussion waren die Tribü¬ nen gedrängt voll und die reservirte besonders cipplaudirte die liberalen Redner nach Kräften. Der Präsident hatte gut den Applaus einemal verbieten, dann den Artikel des Reglements vorlesen, welcher ihn in der¬ gleichen Fällen berechtigt, das Publicum durch die öffentliche Gewalt hinausführen zu lassen, er hatte gut, als zum dritten Mal der Se¬ gen von oben etwas laut sich äußerte, streng erklären: „das erste Mal, so diese Störung sich wiederholt, werde ich die Tribünen räumen lassen," es hals Alles nichts. Man weiß, daß man für die reservirte Tribüne Karten von den Deputaten haben muß, doch die Majorität der Kam¬ mer, also auch der Karten, ist katholisch. Warum.wurden nun die Mi¬ nister und ihre Vertreter nicht auch applaudirt? Wie? Sollte die öf¬ fentliche Meinung in dem ruhigen Belgien still aber entschieden liberal sein? Sollten die spärlich zerstreuten Gegner ihren Irrglauben nicht einzugestehn wagen und sich ihrer etwaigen Sympathien schämen? Der Präsident der Kammer übrigens, Herr Lieots, Gouverneur der Provinz Brabant, hat auch gegen das Ministerium votirt und seine Vorliebe für die Partei des Fortschritts überhaupt nicht verbergen können. Zu der neuen Opposition gehört ferner der General Goblet, frü¬ herer College des Herrn Nothomb, und noch immer Flügeladjutant des Königs! Der General Chazal, welcher Kriegsminister unter Herrn Rogier gewesen wäre, und es noch ein Mal sein wird, ist vom Könige zum Marechal de Camp ernannt worden. So fehlt den Politisch-Katholiken Bel¬ giens der irdische Halt: möchten sie nur unterdeß nicht auch den Himmel verscherzen. Sollich Ihnen von der kläglichen Retsin-Geschieb te sprechen, von diesem Reliquicnhändler, in dessen Keller man einen Hirnschädel, s»inde DorotKvv bezeichnet, gesunden, der einem Mannskopfe angehört, nebst Kaninchcnknochen, womit er seine heiligen Reste fabricirt i Soll ich Ih¬ nen wiederholen, wie der Justizminister denselben, da er wegen Entwer¬ tung öffentlicher Gelder verurtheilt, widergesetzlich freigelassen, wie die saubere Geschichte von dem heftigen Herrn Versaegen, aber auch dem sanften, gemäßigten, ernsten Herrn Dolez von Mons der Kammer er¬ zählt, was dem Ministerium seine besten Freunde entfremdet? Sie wis¬ sen das Alles schon durch die Zeitungen und wendet man gern seinen Blick von einem Ereignis;, welches ganz Belgien so sehr empörte. Es bestätigt diese Geschichte indeß von Neuem, daß die Berechnungen in der Politik leicht fehlschlagen. Man verrammelt sich mit großer Anstrengung gegen die andringende Fluth und tief unten öffnet sich ungesehen eine Spalte, durch die das Wasser leise einstießt und den Boden wie die Wände des Schiffes bedrohlich unterhöhlt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/274>, abgerufen am 29.04.2024.