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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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der Hilflosigkeit befinden. Eine sehr große Zahl natürlicher Kinder
bleibt bei ihren Müttern, wo sie besser gepflegt werden, als viele in
der Ehe geborne Kinder. Später werden sogar die meisten noch an¬
erkannt. Man glaubt es nicht, welche Menge von dürftigen Perso¬
nen in Paris mit einander in ehelichen Verhältniß, aber außerhalb
der geschlichen Ehe leben und dabei doch in der Ausübung aller
häuslichen Tugenden als Muster dienen können. Es ist dies immer¬
hin traurig, aber der Mangel einer hinreichenden Summe für die Ko¬
sten der Ceremonie läßt oft Jahre lang die besten Absichten nicht zur Aus¬
führung kommen. Was die Leute betrifft, die im Verhältniß von mehr als
1 zu 3 im Hospital sterbe"?, so wäre es ein großer Irrthum, dies im¬
mer aus ihrer Hilflosigkeit zu erkläre". Früher empfand das Volk
vor dem bloßen Wort Spital einen Widerwillen, welcher jetzt immer
mehr verschwindet, und mancher Arbeiter zieht es vor, sich unentgeld-
Uch im Hotel-Dieu oder in Beauson pflegen zu lassen, als für eine
dürftige Pflege in seiner Wohnung viel Geld auszugeben. Auch darf
man nicht über die enorme Zahl von 88,000 Dürftigen, die in die
Wohlthätigkeitsbüreauö eingeschrieben sind, allzusehr erschrecken. Diese
Bureaus haben bei den besten Absichten der Welt ein Interesse, die
Zahl der Hilfsbedürftigen zu übertreiben, um eine größere Summe
von Beiträgen heranzuziehen. Auch haben sich in diesen Theil der
öffentlichen Mildthätigkeit am meisten Mißbräuche eingeschlichen: nicht
alle Bettler, die an dieser reichen Quelle schöpfen, find des Mitleids
würdig, und Schmarotzer und Müssiggänger wissen sich oft da hinzu¬
drängen, wo nur der wahren Armuth ein Platz gebührt.

Neben diesen öffentlichen Anstalten ist auch die Privatwohlthätig¬
keit fortwährend thätig. Man weiß es nicht genug, wie viele edle
Geister und warme Herzen sich unaufhörlich damit beschäftigen, das
Loos dieses Volkes zu verbessern, das man uns beständig als eine
Kaste von unterdrückten und neidischen Parias darstellt. Man sollte
meinen, der Pariser könnte, sich auf die angeführten öffentlichen In¬
stitute verlassend, sich der Pflicht, Almosen zu spenden, völlig entbun¬
den halten, und in der Thar glauben Viele in Deutschland, daß au¬
ßerordentliche Mildthätigkeit hier nur mit Hilfe von Concerten und
Bällen zu erlangen sei, und daß man in Paris nur tanzend oder, um
in der Lotterie zu gewinnen, Almosen gibt. Wenn diese Leute unsern
in dem moralischen Deutschland verschrieenen Weltdauer auf ihren
Tagesercursionen folgten, so würden sie sehen, daß sehr oft diese feu¬
rigen Augen, welche des Abends unter Diamanten glänzen, im Laufe


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der Hilflosigkeit befinden. Eine sehr große Zahl natürlicher Kinder
bleibt bei ihren Müttern, wo sie besser gepflegt werden, als viele in
der Ehe geborne Kinder. Später werden sogar die meisten noch an¬
erkannt. Man glaubt es nicht, welche Menge von dürftigen Perso¬
nen in Paris mit einander in ehelichen Verhältniß, aber außerhalb
der geschlichen Ehe leben und dabei doch in der Ausübung aller
häuslichen Tugenden als Muster dienen können. Es ist dies immer¬
hin traurig, aber der Mangel einer hinreichenden Summe für die Ko¬
sten der Ceremonie läßt oft Jahre lang die besten Absichten nicht zur Aus¬
führung kommen. Was die Leute betrifft, die im Verhältniß von mehr als
1 zu 3 im Hospital sterbe«?, so wäre es ein großer Irrthum, dies im¬
mer aus ihrer Hilflosigkeit zu erkläre». Früher empfand das Volk
vor dem bloßen Wort Spital einen Widerwillen, welcher jetzt immer
mehr verschwindet, und mancher Arbeiter zieht es vor, sich unentgeld-
Uch im Hotel-Dieu oder in Beauson pflegen zu lassen, als für eine
dürftige Pflege in seiner Wohnung viel Geld auszugeben. Auch darf
man nicht über die enorme Zahl von 88,000 Dürftigen, die in die
Wohlthätigkeitsbüreauö eingeschrieben sind, allzusehr erschrecken. Diese
Bureaus haben bei den besten Absichten der Welt ein Interesse, die
Zahl der Hilfsbedürftigen zu übertreiben, um eine größere Summe
von Beiträgen heranzuziehen. Auch haben sich in diesen Theil der
öffentlichen Mildthätigkeit am meisten Mißbräuche eingeschlichen: nicht
alle Bettler, die an dieser reichen Quelle schöpfen, find des Mitleids
würdig, und Schmarotzer und Müssiggänger wissen sich oft da hinzu¬
drängen, wo nur der wahren Armuth ein Platz gebührt.

Neben diesen öffentlichen Anstalten ist auch die Privatwohlthätig¬
keit fortwährend thätig. Man weiß es nicht genug, wie viele edle
Geister und warme Herzen sich unaufhörlich damit beschäftigen, das
Loos dieses Volkes zu verbessern, das man uns beständig als eine
Kaste von unterdrückten und neidischen Parias darstellt. Man sollte
meinen, der Pariser könnte, sich auf die angeführten öffentlichen In¬
stitute verlassend, sich der Pflicht, Almosen zu spenden, völlig entbun¬
den halten, und in der Thar glauben Viele in Deutschland, daß au¬
ßerordentliche Mildthätigkeit hier nur mit Hilfe von Concerten und
Bällen zu erlangen sei, und daß man in Paris nur tanzend oder, um
in der Lotterie zu gewinnen, Almosen gibt. Wenn diese Leute unsern
in dem moralischen Deutschland verschrieenen Weltdauer auf ihren
Tagesercursionen folgten, so würden sie sehen, daß sehr oft diese feu¬
rigen Augen, welche des Abends unter Diamanten glänzen, im Laufe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/379>, abgerufen am 28.04.2024.