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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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ner Seite, aber die Eigensinnige setzt ihren Willen gerichtlich durch.
Bei der letzten Verhandlung, wo das Ehescheidungsurtheil ausgespro¬
chen wurde, bemerkte man, daß der junge Geschiedene unendlich trau¬
rig war. Früh hätte Niemand sich träumen lassen, daß er an Selbst¬
mord dachte. Zwei Stunden spater fand man ihn erschossen in sei¬
ner Wohnung. Das war gewiß keines von den blasirten Alltags¬
kindern von Paris. Ein echter Nouv hatte eine Fvte gegeben, am
Tage, wo er seine Frau los wurde; sich darüber zu erschießen, ist
aber jedenfalls keine gemeine Dummheit, sondern eine poetische.

-- Man kennt die Geschichte von jenem Hans in der Fremde, der
aus Paris kam und voll Bewunderung erzählte, daß dort sogar die
kleinen Kinder schon französisch sprechen. Seit dieser Zeit scheinen
diese mock einen Schritt weiter in der Civilisation gemacht zu haben,
mancher christlich-germanische Reisende könnte jetzt ausrufen: In Frank¬
reich sind die kleinsten Kinder schon Voltairianer! Der Pfarrer Necou-
lcs ist dieser Tage von dem Zuchthausgericht in Bordeaux zu zehn
Tage Gefängniß und fünfzig Franken Strafe verurtheilt, wegen
diverser Ohrfeigen, die er einem kleinen Madchen gegeben. Das Kind
hat sich nämlich durchaus geweigert einer Procession sich anzuschließen,
die eben Statt fand; offenbar hat dieses gottlose Geschöpf zu sehr-in
die schändliche Lektüre der Encyklopedisten, Spinozas und Feuerbachs
sich vertieft und der gute Pfarrer wollte im heiligen Zorn, diese Teu¬
fel in Gesellschaft einiger Zähne ihm ausschlagen. Aber die Richter
-- wahrscheinlich selber Voltairianer -- wollten die heilige Handlung
nicht anerkennen! O Bordeaux, Sodom und Gomorrha! hätten wir
deine süßen Weine nicht so nöthig, die Rache des Himmels würden
wir auf Dich herabbeschwören.

-- Während die österreichische Negierung dem allzugroßen Andrang
schwäbischer Auswanderer nach Siebenbürgen Einhalt zu thun sucht,
lesen wir in belgischen Blättern: "Seit dem Monate Marz muß man
fast jeden Tag auf unserer Eisenbahn einen oder mehre Wagons den
Wagenzügen anhängen, um die deutscyen Auswanderer zu transporti-
ren, die in außergewöhnlicher Zahl nach Antwerpen sich begeben." --
Andererseits meldet die heutige Nummer des Journals des Debats,
aus Havre: Noch niemals ist die Zahl der nach Amerika auswan¬
dernden Deutschen so groß gewesen, wie in diesem Augenblicke, die
Fuhrleute haben nicht genug Wagen, um sie alle herbei zu führen und
erst gestern hat das Dampfschiff "Rotterdam" 400 Auswanderer ge¬
bracht, die sich nach New-York begeben.




Verlag von Fr. Lndw. Herbig. -- Redacteur I. Kuvanda.
Druck von Friedrich Andrä.

ner Seite, aber die Eigensinnige setzt ihren Willen gerichtlich durch.
Bei der letzten Verhandlung, wo das Ehescheidungsurtheil ausgespro¬
chen wurde, bemerkte man, daß der junge Geschiedene unendlich trau¬
rig war. Früh hätte Niemand sich träumen lassen, daß er an Selbst¬
mord dachte. Zwei Stunden spater fand man ihn erschossen in sei¬
ner Wohnung. Das war gewiß keines von den blasirten Alltags¬
kindern von Paris. Ein echter Nouv hatte eine Fvte gegeben, am
Tage, wo er seine Frau los wurde; sich darüber zu erschießen, ist
aber jedenfalls keine gemeine Dummheit, sondern eine poetische.

— Man kennt die Geschichte von jenem Hans in der Fremde, der
aus Paris kam und voll Bewunderung erzählte, daß dort sogar die
kleinen Kinder schon französisch sprechen. Seit dieser Zeit scheinen
diese mock einen Schritt weiter in der Civilisation gemacht zu haben,
mancher christlich-germanische Reisende könnte jetzt ausrufen: In Frank¬
reich sind die kleinsten Kinder schon Voltairianer! Der Pfarrer Necou-
lcs ist dieser Tage von dem Zuchthausgericht in Bordeaux zu zehn
Tage Gefängniß und fünfzig Franken Strafe verurtheilt, wegen
diverser Ohrfeigen, die er einem kleinen Madchen gegeben. Das Kind
hat sich nämlich durchaus geweigert einer Procession sich anzuschließen,
die eben Statt fand; offenbar hat dieses gottlose Geschöpf zu sehr-in
die schändliche Lektüre der Encyklopedisten, Spinozas und Feuerbachs
sich vertieft und der gute Pfarrer wollte im heiligen Zorn, diese Teu¬
fel in Gesellschaft einiger Zähne ihm ausschlagen. Aber die Richter
— wahrscheinlich selber Voltairianer — wollten die heilige Handlung
nicht anerkennen! O Bordeaux, Sodom und Gomorrha! hätten wir
deine süßen Weine nicht so nöthig, die Rache des Himmels würden
wir auf Dich herabbeschwören.

— Während die österreichische Negierung dem allzugroßen Andrang
schwäbischer Auswanderer nach Siebenbürgen Einhalt zu thun sucht,
lesen wir in belgischen Blättern: „Seit dem Monate Marz muß man
fast jeden Tag auf unserer Eisenbahn einen oder mehre Wagons den
Wagenzügen anhängen, um die deutscyen Auswanderer zu transporti-
ren, die in außergewöhnlicher Zahl nach Antwerpen sich begeben." —
Andererseits meldet die heutige Nummer des Journals des Debats,
aus Havre: Noch niemals ist die Zahl der nach Amerika auswan¬
dernden Deutschen so groß gewesen, wie in diesem Augenblicke, die
Fuhrleute haben nicht genug Wagen, um sie alle herbei zu führen und
erst gestern hat das Dampfschiff „Rotterdam" 400 Auswanderer ge¬
bracht, die sich nach New-York begeben.




Verlag von Fr. Lndw. Herbig. — Redacteur I. Kuvanda.
Druck von Friedrich Andrä.
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[0044] ner Seite, aber die Eigensinnige setzt ihren Willen gerichtlich durch. Bei der letzten Verhandlung, wo das Ehescheidungsurtheil ausgespro¬ chen wurde, bemerkte man, daß der junge Geschiedene unendlich trau¬ rig war. Früh hätte Niemand sich träumen lassen, daß er an Selbst¬ mord dachte. Zwei Stunden spater fand man ihn erschossen in sei¬ ner Wohnung. Das war gewiß keines von den blasirten Alltags¬ kindern von Paris. Ein echter Nouv hatte eine Fvte gegeben, am Tage, wo er seine Frau los wurde; sich darüber zu erschießen, ist aber jedenfalls keine gemeine Dummheit, sondern eine poetische. — Man kennt die Geschichte von jenem Hans in der Fremde, der aus Paris kam und voll Bewunderung erzählte, daß dort sogar die kleinen Kinder schon französisch sprechen. Seit dieser Zeit scheinen diese mock einen Schritt weiter in der Civilisation gemacht zu haben, mancher christlich-germanische Reisende könnte jetzt ausrufen: In Frank¬ reich sind die kleinsten Kinder schon Voltairianer! Der Pfarrer Necou- lcs ist dieser Tage von dem Zuchthausgericht in Bordeaux zu zehn Tage Gefängniß und fünfzig Franken Strafe verurtheilt, wegen diverser Ohrfeigen, die er einem kleinen Madchen gegeben. Das Kind hat sich nämlich durchaus geweigert einer Procession sich anzuschließen, die eben Statt fand; offenbar hat dieses gottlose Geschöpf zu sehr-in die schändliche Lektüre der Encyklopedisten, Spinozas und Feuerbachs sich vertieft und der gute Pfarrer wollte im heiligen Zorn, diese Teu¬ fel in Gesellschaft einiger Zähne ihm ausschlagen. Aber die Richter — wahrscheinlich selber Voltairianer — wollten die heilige Handlung nicht anerkennen! O Bordeaux, Sodom und Gomorrha! hätten wir deine süßen Weine nicht so nöthig, die Rache des Himmels würden wir auf Dich herabbeschwören. — Während die österreichische Negierung dem allzugroßen Andrang schwäbischer Auswanderer nach Siebenbürgen Einhalt zu thun sucht, lesen wir in belgischen Blättern: „Seit dem Monate Marz muß man fast jeden Tag auf unserer Eisenbahn einen oder mehre Wagons den Wagenzügen anhängen, um die deutscyen Auswanderer zu transporti- ren, die in außergewöhnlicher Zahl nach Antwerpen sich begeben." — Andererseits meldet die heutige Nummer des Journals des Debats, aus Havre: Noch niemals ist die Zahl der nach Amerika auswan¬ dernden Deutschen so groß gewesen, wie in diesem Augenblicke, die Fuhrleute haben nicht genug Wagen, um sie alle herbei zu führen und erst gestern hat das Dampfschiff „Rotterdam" 400 Auswanderer ge¬ bracht, die sich nach New-York begeben. Verlag von Fr. Lndw. Herbig. — Redacteur I. Kuvanda. Druck von Friedrich Andrä.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/44>, abgerufen am 28.04.2024.