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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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sei. Diese Aufgabe des höhern Künstlers erkannte sich Herr Emil
Devrient nicht zu. Herr Emil Devrient spielte an der königsstadter
Bühne -- aus Bescheidenheit!


IV.
Notizen.

Der einsamste Mann. -- Zeit und Lyrik,
Der einsamste Mann der Christenheit ist gestorben. Es liegt etwas
Furchtbares und tief Tragisches in dem Schicksale eines Papstes. Schon
bei seiner Wahl! In einem Alter, wo andere Greise unter grünem fried¬
lichen Laubdach von den Stürmen des Lebens endlich behaglich ausruhen,
wo die weißen Locken wie leichte Silberwölkchen den stillen Abend ankün¬
digen, muß er erst hinaus in die weite stürmische Arena, muß er das
gebeugte Haupt mit dem Kampfcshelm der Tiarn decken. Wenn Andere
ihre Thaten beschließen, beginnen die seinigen erst. Als ein gebrechlicher
Greis besteigt er die Höhe, welche die Wachsamkeit und die Seelenkraft
des stärksten Mannes aufzehrte. Er muß die Verantwortlichkeit für Vor¬
fahren übernehmen, die nicht seine Väter waren und für Nachkommen
sorgen, die nicht seine Kinder sind. Und ängstlicher als Jeder muß er
seine, Schritte abwiegen, seine Thaten messen und für seine Macht sor¬
gen. Denn nicht ein liebender Sohn, ein ehrfurchtsvoller Enkel wird
ihm folgen, der für seine Schwachen Nachsicht hat. Ein fremdes Ver¬
mögen ist es, das er verwaltet und Fremde sind es, die seine Erben und
Beurtheiler werden. Und naht endlich sein letzter Augenblick, wer umsteht
ihn? Der Vater der Christenheit liegt kinderlos auf dem Sterbebette,
keine treue Sohneshand rückt ihm das Kissen zurecht, keine zitternde
Tochterhand wischt ihm den Schweiß von der Stirne. Sein brechendes
Auge begegnet rings umher nur berechnenden Gesichtern, die ehrgeizig oder
geldgierig die Vortheile grübelnd nachzählen, die sein letzter Seufzer
ihnen bringen wird. Das Haupt des größten Vereins auf dem Erdbo¬
den stirbt verlassen, das Oberhaupt von hundert Millionen Christen stirbt
einsamer, als mancher Verbannte, und mancher arme Hindu findet an
seinem Todtenbett ein lauteres Schluchzen als der Hohepriester der "Reli¬
gion der Liebe."

-- Von Karl Becks Gedichten erscheint zu Michaelis die fünfte
Ausgabe, von Freiligrath's die siebente. In dieser trocknen Zeit der
Differentialzölle und der Synoden, der Actienvereine und der Kirchenzei¬
tungen flüchtet sich das poetische Gemüth eifriger und häufiger als je
auf die kleinen, immergrünen Inselgruppen, wo der melodische Wellen¬
schlag des Reims und das traumhafte Rauschen blättcrreicher Gedanken¬
baume die dürstende Seele anfrischt vor dem Staub der großen Heeres¬
straße. Nie sind in Deutschland mehr Gedichte gelesen und gekauft
worden, als eb ^ dieser Zeit der höchsten Nüchternheit. Vielleicht de-
cretirt man in K^rum auch eine Nachtigallensteuer auf das Lesen lyri¬
scher Poeten, damit die verirrte Leselust bessere Wege finde und dem
Gesangbuch sich zuwende.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. -- Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrä.

sei. Diese Aufgabe des höhern Künstlers erkannte sich Herr Emil
Devrient nicht zu. Herr Emil Devrient spielte an der königsstadter
Bühne — aus Bescheidenheit!


IV.
Notizen.

Der einsamste Mann. — Zeit und Lyrik,
Der einsamste Mann der Christenheit ist gestorben. Es liegt etwas
Furchtbares und tief Tragisches in dem Schicksale eines Papstes. Schon
bei seiner Wahl! In einem Alter, wo andere Greise unter grünem fried¬
lichen Laubdach von den Stürmen des Lebens endlich behaglich ausruhen,
wo die weißen Locken wie leichte Silberwölkchen den stillen Abend ankün¬
digen, muß er erst hinaus in die weite stürmische Arena, muß er das
gebeugte Haupt mit dem Kampfcshelm der Tiarn decken. Wenn Andere
ihre Thaten beschließen, beginnen die seinigen erst. Als ein gebrechlicher
Greis besteigt er die Höhe, welche die Wachsamkeit und die Seelenkraft
des stärksten Mannes aufzehrte. Er muß die Verantwortlichkeit für Vor¬
fahren übernehmen, die nicht seine Väter waren und für Nachkommen
sorgen, die nicht seine Kinder sind. Und ängstlicher als Jeder muß er
seine, Schritte abwiegen, seine Thaten messen und für seine Macht sor¬
gen. Denn nicht ein liebender Sohn, ein ehrfurchtsvoller Enkel wird
ihm folgen, der für seine Schwachen Nachsicht hat. Ein fremdes Ver¬
mögen ist es, das er verwaltet und Fremde sind es, die seine Erben und
Beurtheiler werden. Und naht endlich sein letzter Augenblick, wer umsteht
ihn? Der Vater der Christenheit liegt kinderlos auf dem Sterbebette,
keine treue Sohneshand rückt ihm das Kissen zurecht, keine zitternde
Tochterhand wischt ihm den Schweiß von der Stirne. Sein brechendes
Auge begegnet rings umher nur berechnenden Gesichtern, die ehrgeizig oder
geldgierig die Vortheile grübelnd nachzählen, die sein letzter Seufzer
ihnen bringen wird. Das Haupt des größten Vereins auf dem Erdbo¬
den stirbt verlassen, das Oberhaupt von hundert Millionen Christen stirbt
einsamer, als mancher Verbannte, und mancher arme Hindu findet an
seinem Todtenbett ein lauteres Schluchzen als der Hohepriester der „Reli¬
gion der Liebe."

— Von Karl Becks Gedichten erscheint zu Michaelis die fünfte
Ausgabe, von Freiligrath's die siebente. In dieser trocknen Zeit der
Differentialzölle und der Synoden, der Actienvereine und der Kirchenzei¬
tungen flüchtet sich das poetische Gemüth eifriger und häufiger als je
auf die kleinen, immergrünen Inselgruppen, wo der melodische Wellen¬
schlag des Reims und das traumhafte Rauschen blättcrreicher Gedanken¬
baume die dürstende Seele anfrischt vor dem Staub der großen Heeres¬
straße. Nie sind in Deutschland mehr Gedichte gelesen und gekauft
worden, als eb ^ dieser Zeit der höchsten Nüchternheit. Vielleicht de-
cretirt man in K^rum auch eine Nachtigallensteuer auf das Lesen lyri¬
scher Poeten, damit die verirrte Leselust bessere Wege finde und dem
Gesangbuch sich zuwende.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrä.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/508>, abgerufen am 29.04.2024.