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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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land'sche Jammer, dem man gleich im ersten Acte durch eine Collecte
von so und so vielen Thalern ein Ende machen könnte, es ist der wirk¬
liche Conflict unserer Familienzustande, die Schilderung wahrer, dem Le¬
ben abgelauschter Verhältnisse. Kein Bild, keine Phrase, schweift über den
Horizont dieser kleinbürgerlichen Stube hinaus und doch ist es eine wahre und
ächte Tragödie im großen Style, wenn auch mehr von Rasiermessern und
Polizeidienern, als von hochklingenden Schwertern und Königen die Rede
ist. Die Gestalt des Meisters Anton würde jedes Goethe'sche oder Shak-
spear'sche Drama zieren. Ueberall ist das ächt Menschliche dem Dichter
zur Seite, seine Lieblinge, seine Helden, wie seine Teufel tragen nirgends
Masken, werden nirgends zur Fratze -- es find wahre menschliche Ant¬
litze ohne Schminke und Puder. Überraschungen und jähe Jntriguenwen-
dungen darf man freilich in dem Stücke nicht suchen. Im Gegentheil: gegen
die theatralischen Oekonomiegesetze vergeht sich der Dichter dadurch, daß er
die überraschendste Wendung und die größte Leidenschaftlichkeit gleich am
Schlüsse des ersten Actes eintreten laßt. Und doch fesseln die beiden
folgenden bis zum letzten Athem der Handlung. In jeder Scene drangen
sich die zartesten psychologischen Züge, von denen manche dem gewöhn¬
lichen Zuschauer allerdings entschlüpfen. Der reiche Kaufmann mit seiner
eitlen Scham: man könnte in der Stadt wissen, daß seine Frau wahn¬
sinnig sei -- welch einen Contrast bildet er gegen die wirkliche Schande,
die er in die arme Familie gebracht und gegen die größere, die ihr
noch bevorsteht. Aber solche Nuancen sind wie zufallig und absichtslos
von dem Dichter hingeworfen, und das Publicum ist gewöhnt, derlei
Dinge faustdick unter die Nase geschmiert zu bekommen, ehe es darauf
merkt. Nichtsdestoweniger war der Erfolg dieser Borstellung, an welche
keine deutsche Bühne bisher sich wagen wollte, ein entschieden günstiger.
Die Frauen haben ein Bischen die Köpfe geschüttelt und die Familien¬
väter haben bedauert, ihre siebzehnjährigen Töchter mitgebracht zu haben.
Nun, so möge man sie das nächste Mal zu Hause lassen, sie können ja
mittlerweile, die Ul^steres (to I^ris und MoustAcKo von Paul de Kock
lesen!





Verlag von Fr. Ludw. Hcrbig. -- Redacteur I. K"r"n'da.
Druck von Friedrich Andrä.
Den Schauspielern, die in dem Stücke mitwirkten, gebührt das vollste Lob
für ihre Leistungen. In erster Reihe Herrn Marr und Fräulein Unzelmann.
Marr hat in Meister Anton eine jener Gestalten geliefert, die sich der Phantasie
unauslöschlich einprägen. Frciul. Unzelmann, die immer entschiedener als eine der
ersten Künstlerinnen deutscher Bühne sich rund gibt, gab die Titelrolle mit einer
Wahrheit und feinen Nuancirung, wie sie bei einer solchen delicaten Aufgabe dop¬
pelt schwer und daher doppelt anerkennungswürdig ist. Die Herren Wagner und
Richter dürsten zum Bordseite des Ganzen ihre Rollen tauschen. Doch thaten
Weide 'Alles, was in ihrer Individualität lag, um der Dichtung Harmonie und
Geltung zu erringen. Das Ensemble war der besten Bühne würdig.

land'sche Jammer, dem man gleich im ersten Acte durch eine Collecte
von so und so vielen Thalern ein Ende machen könnte, es ist der wirk¬
liche Conflict unserer Familienzustande, die Schilderung wahrer, dem Le¬
ben abgelauschter Verhältnisse. Kein Bild, keine Phrase, schweift über den
Horizont dieser kleinbürgerlichen Stube hinaus und doch ist es eine wahre und
ächte Tragödie im großen Style, wenn auch mehr von Rasiermessern und
Polizeidienern, als von hochklingenden Schwertern und Königen die Rede
ist. Die Gestalt des Meisters Anton würde jedes Goethe'sche oder Shak-
spear'sche Drama zieren. Ueberall ist das ächt Menschliche dem Dichter
zur Seite, seine Lieblinge, seine Helden, wie seine Teufel tragen nirgends
Masken, werden nirgends zur Fratze — es find wahre menschliche Ant¬
litze ohne Schminke und Puder. Überraschungen und jähe Jntriguenwen-
dungen darf man freilich in dem Stücke nicht suchen. Im Gegentheil: gegen
die theatralischen Oekonomiegesetze vergeht sich der Dichter dadurch, daß er
die überraschendste Wendung und die größte Leidenschaftlichkeit gleich am
Schlüsse des ersten Actes eintreten laßt. Und doch fesseln die beiden
folgenden bis zum letzten Athem der Handlung. In jeder Scene drangen
sich die zartesten psychologischen Züge, von denen manche dem gewöhn¬
lichen Zuschauer allerdings entschlüpfen. Der reiche Kaufmann mit seiner
eitlen Scham: man könnte in der Stadt wissen, daß seine Frau wahn¬
sinnig sei — welch einen Contrast bildet er gegen die wirkliche Schande,
die er in die arme Familie gebracht und gegen die größere, die ihr
noch bevorsteht. Aber solche Nuancen sind wie zufallig und absichtslos
von dem Dichter hingeworfen, und das Publicum ist gewöhnt, derlei
Dinge faustdick unter die Nase geschmiert zu bekommen, ehe es darauf
merkt. Nichtsdestoweniger war der Erfolg dieser Borstellung, an welche
keine deutsche Bühne bisher sich wagen wollte, ein entschieden günstiger.
Die Frauen haben ein Bischen die Köpfe geschüttelt und die Familien¬
väter haben bedauert, ihre siebzehnjährigen Töchter mitgebracht zu haben.
Nun, so möge man sie das nächste Mal zu Hause lassen, sie können ja
mittlerweile, die Ul^steres (to I^ris und MoustAcKo von Paul de Kock
lesen!





Verlag von Fr. Ludw. Hcrbig. — Redacteur I. K»r«n'da.
Druck von Friedrich Andrä.
Den Schauspielern, die in dem Stücke mitwirkten, gebührt das vollste Lob
für ihre Leistungen. In erster Reihe Herrn Marr und Fräulein Unzelmann.
Marr hat in Meister Anton eine jener Gestalten geliefert, die sich der Phantasie
unauslöschlich einprägen. Frciul. Unzelmann, die immer entschiedener als eine der
ersten Künstlerinnen deutscher Bühne sich rund gibt, gab die Titelrolle mit einer
Wahrheit und feinen Nuancirung, wie sie bei einer solchen delicaten Aufgabe dop¬
pelt schwer und daher doppelt anerkennungswürdig ist. Die Herren Wagner und
Richter dürsten zum Bordseite des Ganzen ihre Rollen tauschen. Doch thaten
Weide 'Alles, was in ihrer Individualität lag, um der Dichtung Harmonie und
Geltung zu erringen. Das Ensemble war der besten Bühne würdig.
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[0132] land'sche Jammer, dem man gleich im ersten Acte durch eine Collecte von so und so vielen Thalern ein Ende machen könnte, es ist der wirk¬ liche Conflict unserer Familienzustande, die Schilderung wahrer, dem Le¬ ben abgelauschter Verhältnisse. Kein Bild, keine Phrase, schweift über den Horizont dieser kleinbürgerlichen Stube hinaus und doch ist es eine wahre und ächte Tragödie im großen Style, wenn auch mehr von Rasiermessern und Polizeidienern, als von hochklingenden Schwertern und Königen die Rede ist. Die Gestalt des Meisters Anton würde jedes Goethe'sche oder Shak- spear'sche Drama zieren. Ueberall ist das ächt Menschliche dem Dichter zur Seite, seine Lieblinge, seine Helden, wie seine Teufel tragen nirgends Masken, werden nirgends zur Fratze — es find wahre menschliche Ant¬ litze ohne Schminke und Puder. Überraschungen und jähe Jntriguenwen- dungen darf man freilich in dem Stücke nicht suchen. Im Gegentheil: gegen die theatralischen Oekonomiegesetze vergeht sich der Dichter dadurch, daß er die überraschendste Wendung und die größte Leidenschaftlichkeit gleich am Schlüsse des ersten Actes eintreten laßt. Und doch fesseln die beiden folgenden bis zum letzten Athem der Handlung. In jeder Scene drangen sich die zartesten psychologischen Züge, von denen manche dem gewöhn¬ lichen Zuschauer allerdings entschlüpfen. Der reiche Kaufmann mit seiner eitlen Scham: man könnte in der Stadt wissen, daß seine Frau wahn¬ sinnig sei — welch einen Contrast bildet er gegen die wirkliche Schande, die er in die arme Familie gebracht und gegen die größere, die ihr noch bevorsteht. Aber solche Nuancen sind wie zufallig und absichtslos von dem Dichter hingeworfen, und das Publicum ist gewöhnt, derlei Dinge faustdick unter die Nase geschmiert zu bekommen, ehe es darauf merkt. Nichtsdestoweniger war der Erfolg dieser Borstellung, an welche keine deutsche Bühne bisher sich wagen wollte, ein entschieden günstiger. Die Frauen haben ein Bischen die Köpfe geschüttelt und die Familien¬ väter haben bedauert, ihre siebzehnjährigen Töchter mitgebracht zu haben. Nun, so möge man sie das nächste Mal zu Hause lassen, sie können ja mittlerweile, die Ul^steres (to I^ris und MoustAcKo von Paul de Kock lesen! Verlag von Fr. Ludw. Hcrbig. — Redacteur I. K»r«n'da. Druck von Friedrich Andrä. Den Schauspielern, die in dem Stücke mitwirkten, gebührt das vollste Lob für ihre Leistungen. In erster Reihe Herrn Marr und Fräulein Unzelmann. Marr hat in Meister Anton eine jener Gestalten geliefert, die sich der Phantasie unauslöschlich einprägen. Frciul. Unzelmann, die immer entschiedener als eine der ersten Künstlerinnen deutscher Bühne sich rund gibt, gab die Titelrolle mit einer Wahrheit und feinen Nuancirung, wie sie bei einer solchen delicaten Aufgabe dop¬ pelt schwer und daher doppelt anerkennungswürdig ist. Die Herren Wagner und Richter dürsten zum Bordseite des Ganzen ihre Rollen tauschen. Doch thaten Weide 'Alles, was in ihrer Individualität lag, um der Dichtung Harmonie und Geltung zu erringen. Das Ensemble war der besten Bühne würdig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/132>, abgerufen am 20.05.2024.