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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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innigsten Liebe. Das Buch der Erinnerung schlug sich vor ihm auf
und zeigte ihm von Blatt zu Blatt die freundlichsten Bilder. Es war
ihm, als beträte er erst heute, wie damals ein armer elternloser Knabe,
das gastliche Haus Roberts. Er sah Marien den Verlaßnen wie
eine Schwester liebreich aufnehmen. Dann war es wieder der Tag,
wo er zum ersten Mal mit Robert in den Wald ging, und der Alte
sich kindisch freute, daß sein Pflegling so geschickt die Jagdflinte zu
handhaben wußte. Und dann der Abend, wo die sinkende Sonne die
Wipfel der Eichen so glühend geküßt, und er Marien hinter den Flie¬
derdusch im Garten gezogen hatte, um dem Beispiel der scheidenden
Himmelskugel zu folgen. Wie sie später mit erröthenden Wangen
und klopfendem Herzen vor Robert getreten, ihm ihre Liebe gestanden
und sein Jawort erbeten hatten. -- Alles war so rosenfarben, so rein
und ungetrübt, bis endlich die nahe Gegenwart ihre Rechte ausübte,
und den Träumer an den schwarzen Flor mahnte, der sich mächtig
über seine Zukunft breitete. Das Lämpchen in seiner Hand fing an
zu zittern, eine drängte sich zwischen seinen Wimpern durch, es war
ihm, als solle er die Schlafende an sein Herz pressen, und nur die
Furcht, sie zu wecken, lähmte seine Glieder. Da fielen seine Augen
auf ein Söckchen, das sich in den Spitzen des Nachthäubchens verber¬
gen wollte. Leise zog er ein Messer hervor und raubte die Locke. ES
ist das letzte Mal vielleicht, dachte er, daß ich sie gesehen. O warum
mußte dieser Wurm die Blüthe meines Lebens benagen, daß die Frucht
herb und unreif zu Boden falle!

Langsam schlich er wieder in das Nebenzimmer, aber auch hier
litt es ihn nicht lange. Hinaus, hinaus in die Nachtluft trieb es ihn.
Mechanisch griff er nach seiner Mütze und seiner Flinte, aber schon an
der Thüre kehrte er noch einmal zurück, um aus den Tiefen einer
Truhe ein Packetchen hervorzusuchen. Dann schlich er vorsichtig, um
Niemand zu wecken, die hölzerne Treppe hinab, ein Sprung über den
Gartenzaun, und er war im Dunkel des Waldes. Hier breitete er
sein Päckchen aus, und zog eine graue, von Dornen und Waldgestrüpp
zerfetzte Blouse hervor, die er geschickt über seine Kleider warf und mit
einem Riemen um die Hüfte befestigte. Dann brach er auf und irrte
planlos in den Wald hinein, bis dieser sich plötzlich lichtete, und ein
kleiner, von Heidelbeerkraut versteckter Fußpfad ihn auf einen kahlen
Felsenvorsprung führte.

Es war eine Mondnacht, aber schwere Gewitterwolken ließen nur
dann und wann die glänzende Scheibe flüchtig hervortreten. Ein die-


innigsten Liebe. Das Buch der Erinnerung schlug sich vor ihm auf
und zeigte ihm von Blatt zu Blatt die freundlichsten Bilder. Es war
ihm, als beträte er erst heute, wie damals ein armer elternloser Knabe,
das gastliche Haus Roberts. Er sah Marien den Verlaßnen wie
eine Schwester liebreich aufnehmen. Dann war es wieder der Tag,
wo er zum ersten Mal mit Robert in den Wald ging, und der Alte
sich kindisch freute, daß sein Pflegling so geschickt die Jagdflinte zu
handhaben wußte. Und dann der Abend, wo die sinkende Sonne die
Wipfel der Eichen so glühend geküßt, und er Marien hinter den Flie¬
derdusch im Garten gezogen hatte, um dem Beispiel der scheidenden
Himmelskugel zu folgen. Wie sie später mit erröthenden Wangen
und klopfendem Herzen vor Robert getreten, ihm ihre Liebe gestanden
und sein Jawort erbeten hatten. — Alles war so rosenfarben, so rein
und ungetrübt, bis endlich die nahe Gegenwart ihre Rechte ausübte,
und den Träumer an den schwarzen Flor mahnte, der sich mächtig
über seine Zukunft breitete. Das Lämpchen in seiner Hand fing an
zu zittern, eine drängte sich zwischen seinen Wimpern durch, es war
ihm, als solle er die Schlafende an sein Herz pressen, und nur die
Furcht, sie zu wecken, lähmte seine Glieder. Da fielen seine Augen
auf ein Söckchen, das sich in den Spitzen des Nachthäubchens verber¬
gen wollte. Leise zog er ein Messer hervor und raubte die Locke. ES
ist das letzte Mal vielleicht, dachte er, daß ich sie gesehen. O warum
mußte dieser Wurm die Blüthe meines Lebens benagen, daß die Frucht
herb und unreif zu Boden falle!

Langsam schlich er wieder in das Nebenzimmer, aber auch hier
litt es ihn nicht lange. Hinaus, hinaus in die Nachtluft trieb es ihn.
Mechanisch griff er nach seiner Mütze und seiner Flinte, aber schon an
der Thüre kehrte er noch einmal zurück, um aus den Tiefen einer
Truhe ein Packetchen hervorzusuchen. Dann schlich er vorsichtig, um
Niemand zu wecken, die hölzerne Treppe hinab, ein Sprung über den
Gartenzaun, und er war im Dunkel des Waldes. Hier breitete er
sein Päckchen aus, und zog eine graue, von Dornen und Waldgestrüpp
zerfetzte Blouse hervor, die er geschickt über seine Kleider warf und mit
einem Riemen um die Hüfte befestigte. Dann brach er auf und irrte
planlos in den Wald hinein, bis dieser sich plötzlich lichtete, und ein
kleiner, von Heidelbeerkraut versteckter Fußpfad ihn auf einen kahlen
Felsenvorsprung führte.

Es war eine Mondnacht, aber schwere Gewitterwolken ließen nur
dann und wann die glänzende Scheibe flüchtig hervortreten. Ein die-


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[0164] innigsten Liebe. Das Buch der Erinnerung schlug sich vor ihm auf und zeigte ihm von Blatt zu Blatt die freundlichsten Bilder. Es war ihm, als beträte er erst heute, wie damals ein armer elternloser Knabe, das gastliche Haus Roberts. Er sah Marien den Verlaßnen wie eine Schwester liebreich aufnehmen. Dann war es wieder der Tag, wo er zum ersten Mal mit Robert in den Wald ging, und der Alte sich kindisch freute, daß sein Pflegling so geschickt die Jagdflinte zu handhaben wußte. Und dann der Abend, wo die sinkende Sonne die Wipfel der Eichen so glühend geküßt, und er Marien hinter den Flie¬ derdusch im Garten gezogen hatte, um dem Beispiel der scheidenden Himmelskugel zu folgen. Wie sie später mit erröthenden Wangen und klopfendem Herzen vor Robert getreten, ihm ihre Liebe gestanden und sein Jawort erbeten hatten. — Alles war so rosenfarben, so rein und ungetrübt, bis endlich die nahe Gegenwart ihre Rechte ausübte, und den Träumer an den schwarzen Flor mahnte, der sich mächtig über seine Zukunft breitete. Das Lämpchen in seiner Hand fing an zu zittern, eine drängte sich zwischen seinen Wimpern durch, es war ihm, als solle er die Schlafende an sein Herz pressen, und nur die Furcht, sie zu wecken, lähmte seine Glieder. Da fielen seine Augen auf ein Söckchen, das sich in den Spitzen des Nachthäubchens verber¬ gen wollte. Leise zog er ein Messer hervor und raubte die Locke. ES ist das letzte Mal vielleicht, dachte er, daß ich sie gesehen. O warum mußte dieser Wurm die Blüthe meines Lebens benagen, daß die Frucht herb und unreif zu Boden falle! Langsam schlich er wieder in das Nebenzimmer, aber auch hier litt es ihn nicht lange. Hinaus, hinaus in die Nachtluft trieb es ihn. Mechanisch griff er nach seiner Mütze und seiner Flinte, aber schon an der Thüre kehrte er noch einmal zurück, um aus den Tiefen einer Truhe ein Packetchen hervorzusuchen. Dann schlich er vorsichtig, um Niemand zu wecken, die hölzerne Treppe hinab, ein Sprung über den Gartenzaun, und er war im Dunkel des Waldes. Hier breitete er sein Päckchen aus, und zog eine graue, von Dornen und Waldgestrüpp zerfetzte Blouse hervor, die er geschickt über seine Kleider warf und mit einem Riemen um die Hüfte befestigte. Dann brach er auf und irrte planlos in den Wald hinein, bis dieser sich plötzlich lichtete, und ein kleiner, von Heidelbeerkraut versteckter Fußpfad ihn auf einen kahlen Felsenvorsprung führte. Es war eine Mondnacht, aber schwere Gewitterwolken ließen nur dann und wann die glänzende Scheibe flüchtig hervortreten. Ein die-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/164>, abgerufen am 20.05.2024.