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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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lichen Herzens zu greifen, und eine wunderbar verschlungene Harmonie zu
entlocken, er tändelt nur darauf, aber zierlich und mit Anmuth. Die beiden
gelungensten Stücke dieser Sammlung sind "Jda und Pauline" und "Phy¬
siologie der Gesellschaft." Die erste begleitet zwei Schwestern von entgegen¬
gesetztem Charakter von den ersten Freuden eines Kiuderballs bis zum
Tode; eine der Schwestern ist Virtuosin in der Kunst des Genießens, und übt
dieselbe so lange aus, bis sie endlich aus Blasirtheit in's Wasser springt, nach¬
dem sie vorher von drei Männern geschieden ist,und als Copie der Gräfin Hahn-
Hahn die Abentheuer ihres Herzens mit vornehmer Frivolität dem Publikum
zum Besten gegeben hat; die zweite Schwester, eine stille bescheidene Sensitive,
erringt durch die Kraft der Resignation ein zwar minder glänzendes, aber
ruhigeres Loos, sie heirathet einen etwas schwindsüchtiger Professor, der ihre
erste Liebe auf dem Kinderball war, und wird mit ihm wohl im Ganzen
recht glücklich leben. Es ist hier nirgend etwas ausgeführt, mit leichter
Hand skiMt Sternberg uur die Umrisse der Figuren, der Abentheuer, der
Schicksale; eine tiefere psychologische Charakteristik, oder eine leitende Idee
darf man uicht suchen; ebendeshalb werden wir auch nicht in große Spannung
versetzt, denn die Gestalten huschen zu schnell an uns vorüber, als daß wir
ein tieferes Interesse an ihnen gewinnen könnten, aber wir werden überall
augenehm unterhalten nud erfreuen uus an dem Eindruck eiues heitern ge¬
bildeten Geistes. -- Die "Physiologie der Gesellschaft" ist im Sinne der
von Montaigne, der Maxime" von Larochefaucould, der Briefe Lord
Chesterfields an seineu Sohn geschrieben; sie geht von der Grundansicht aus:
die Menschen sind alle Egoisten, und hassen und verderben einander, wenn
sie ihrer Natur folgen; um diesen Zustand zu verhüllen, hat man die Bil¬
dung erfunden, die darin besteht, daß man seinem natürlichen Egoismus
folgt mit der Lüge der allgemeinen Menschenliebe. Ein gebildeter Mensch,
der glücklich sein will, muß die verschiedenen Bestimmungen der conventio-
nellen Lüge studiere", und sie sich aneignen, zwar nicht, um von ihr überall
Gebrauch zu machen, aber um die schädlichen Wirkungen von sich fern zu
halten, die sie auf den ungebildeten Naturalisten ausübt. Das klingt nun
sehr herbe und misanthropisch; es ist aber nicht so böse gemeint; man ist uur
zu geueigtMes mit dem Namen Lüge und Heuchelei zu brandmarken, was
die Herrschaft des Selbstbewußtseins über die Brutalitäten der Natur aus¬
drückt. Daher dürfen uus die Parodoxieu eines aristokratischen Genußmenschen
kaum befremden; es klingt frivol genug, wenn die Ehe mit dem Whiftspicl
in einem Kapitel abgehandelt wird, aber das geschieht eben auch nur, um
die Regeln der Klugheit dnrch scharfe Pointen pikant zu machen. Man


lichen Herzens zu greifen, und eine wunderbar verschlungene Harmonie zu
entlocken, er tändelt nur darauf, aber zierlich und mit Anmuth. Die beiden
gelungensten Stücke dieser Sammlung sind „Jda und Pauline" und „Phy¬
siologie der Gesellschaft." Die erste begleitet zwei Schwestern von entgegen¬
gesetztem Charakter von den ersten Freuden eines Kiuderballs bis zum
Tode; eine der Schwestern ist Virtuosin in der Kunst des Genießens, und übt
dieselbe so lange aus, bis sie endlich aus Blasirtheit in's Wasser springt, nach¬
dem sie vorher von drei Männern geschieden ist,und als Copie der Gräfin Hahn-
Hahn die Abentheuer ihres Herzens mit vornehmer Frivolität dem Publikum
zum Besten gegeben hat; die zweite Schwester, eine stille bescheidene Sensitive,
erringt durch die Kraft der Resignation ein zwar minder glänzendes, aber
ruhigeres Loos, sie heirathet einen etwas schwindsüchtiger Professor, der ihre
erste Liebe auf dem Kinderball war, und wird mit ihm wohl im Ganzen
recht glücklich leben. Es ist hier nirgend etwas ausgeführt, mit leichter
Hand skiMt Sternberg uur die Umrisse der Figuren, der Abentheuer, der
Schicksale; eine tiefere psychologische Charakteristik, oder eine leitende Idee
darf man uicht suchen; ebendeshalb werden wir auch nicht in große Spannung
versetzt, denn die Gestalten huschen zu schnell an uns vorüber, als daß wir
ein tieferes Interesse an ihnen gewinnen könnten, aber wir werden überall
augenehm unterhalten nud erfreuen uus an dem Eindruck eiues heitern ge¬
bildeten Geistes. — Die „Physiologie der Gesellschaft" ist im Sinne der
von Montaigne, der Maxime» von Larochefaucould, der Briefe Lord
Chesterfields an seineu Sohn geschrieben; sie geht von der Grundansicht aus:
die Menschen sind alle Egoisten, und hassen und verderben einander, wenn
sie ihrer Natur folgen; um diesen Zustand zu verhüllen, hat man die Bil¬
dung erfunden, die darin besteht, daß man seinem natürlichen Egoismus
folgt mit der Lüge der allgemeinen Menschenliebe. Ein gebildeter Mensch,
der glücklich sein will, muß die verschiedenen Bestimmungen der conventio-
nellen Lüge studiere«, und sie sich aneignen, zwar nicht, um von ihr überall
Gebrauch zu machen, aber um die schädlichen Wirkungen von sich fern zu
halten, die sie auf den ungebildeten Naturalisten ausübt. Das klingt nun
sehr herbe und misanthropisch; es ist aber nicht so böse gemeint; man ist uur
zu geueigtMes mit dem Namen Lüge und Heuchelei zu brandmarken, was
die Herrschaft des Selbstbewußtseins über die Brutalitäten der Natur aus¬
drückt. Daher dürfen uus die Parodoxieu eines aristokratischen Genußmenschen
kaum befremden; es klingt frivol genug, wenn die Ehe mit dem Whiftspicl
in einem Kapitel abgehandelt wird, aber das geschieht eben auch nur, um
die Regeln der Klugheit dnrch scharfe Pointen pikant zu machen. Man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/341>, abgerufen am 19.05.2024.