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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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handelte zuerst, dann schrieb ich. Ich hatte das von dem großen Schelm
Talleyrand gelernt: si-i^mus ä'^toi-ä vt puis nous nous exuluiuerous."

Mein Tagebuch theilte ich in zwei Abschnitte. Wir lernen das Ein¬
theilen mit dem ersten Blick auf die Landkarte unseres geliebten Vaterlandes.
Der erste Abschnitt führt die Ueberschrift: "Beobachtungen, die jeder Gimpel
machen kann;" der zweite ist überschrieben: "Beobachtungen, die nicht jeder
Gimpel macheu kann." Es ist jedoch möglich, daß in dem einen Abschnitt
Manches vorkommt, was in den andern gepaßt hätte.

Bereits bei der Ankunft war mein Herz durch einen besondern Umstand
für diese herrliche Stadt eingenommen worden. Als ich vom Dampfer an's
Laud stieg, reichte ich "unterthänigst" meinen Reisepaß dem am Ufer wacht¬
habenden Polizeimann hiu. Dieser wußte anfangs nicht, was ich von ihm
wollte, und als ich ihm mein Ansinnen begreiflich machte, lachte er hell auf
und sagte: "Machen's kein Spaß, seien ja in Pesth." -- Ich hätte den
Mann umarmen mögen. Habe ich dich also gefunden, dachte ich, herrliches
Land, wo noch Romantik möglich ist! Auf dem gauzen civilisirten Continent
hat das leidige Paßwesen den Baum der Romantik schrecklich entlaubt. Wo
kann man heute mit niedergelassenen Visir herumwandern, als höchstens in
Zeitungen? Das schreckliche: votre ^"sLLjwi-t! fällt in die Zügel des Rosses.
Das reizende Incognito ist für Bürgersleute ein leeres Wort geworden.
Gesetzt, ein zarter Jüngling hieße Melchior Balthasar Rindsmaul; thörichte
Eltern haben ihm bei der Taufe diesen unseligen Namen gegeben. Was
thut der unglückliche Jüngling? Er nimmt in der Gesellschaft deu Namen
Romeo Lilienhauch an; denn wer würde ein "Rindsmaul" küssen? kann eine
Julie vom Balkon herab den Namen Balthasar flöten? -- Aber was geschieht?
Ein Polizeiadjunkt befindet sich einmal mit dem Jüngling in derselben Ge¬
sellschaft. Es ist ihm unerträglich, daß die Julie des Hanfes nur für Romeo
Angen hat, und er flüstert seiner Nachbarin zu: "Auf Ehre! der junge
Mensch heißt Melchior Balthasar Rindsmaul, ich habe ihm selbst die Auf-
enthaltskarte geschrieben." Die unselige Kunde läuft um, und -- der
zarte Jüngling flieht im tiefsten Schmerz auf immer Haus und Stadt!

Nie werde ich es meinem Paß vergeben, daß es dort in der Person-
bcschreibuug heißt: "Nase gewöhnlich." Das könnte Einen zum Selbst¬
mord verleiten, zumal wenn man weiß, welche Rolle die Nase in Lavater's
Physiognomik spielt.

"Glückliches Ungarn," rief ich bei den Worten des Polizeimannes; hier
darf Einen Niemand bei der Nase fassen, kein Paß darf Einem in's Gesicht


handelte zuerst, dann schrieb ich. Ich hatte das von dem großen Schelm
Talleyrand gelernt: si-i^mus ä'^toi-ä vt puis nous nous exuluiuerous."

Mein Tagebuch theilte ich in zwei Abschnitte. Wir lernen das Ein¬
theilen mit dem ersten Blick auf die Landkarte unseres geliebten Vaterlandes.
Der erste Abschnitt führt die Ueberschrift: „Beobachtungen, die jeder Gimpel
machen kann;" der zweite ist überschrieben: „Beobachtungen, die nicht jeder
Gimpel macheu kann." Es ist jedoch möglich, daß in dem einen Abschnitt
Manches vorkommt, was in den andern gepaßt hätte.

Bereits bei der Ankunft war mein Herz durch einen besondern Umstand
für diese herrliche Stadt eingenommen worden. Als ich vom Dampfer an's
Laud stieg, reichte ich „unterthänigst" meinen Reisepaß dem am Ufer wacht¬
habenden Polizeimann hiu. Dieser wußte anfangs nicht, was ich von ihm
wollte, und als ich ihm mein Ansinnen begreiflich machte, lachte er hell auf
und sagte: „Machen's kein Spaß, seien ja in Pesth." — Ich hätte den
Mann umarmen mögen. Habe ich dich also gefunden, dachte ich, herrliches
Land, wo noch Romantik möglich ist! Auf dem gauzen civilisirten Continent
hat das leidige Paßwesen den Baum der Romantik schrecklich entlaubt. Wo
kann man heute mit niedergelassenen Visir herumwandern, als höchstens in
Zeitungen? Das schreckliche: votre ^»sLLjwi-t! fällt in die Zügel des Rosses.
Das reizende Incognito ist für Bürgersleute ein leeres Wort geworden.
Gesetzt, ein zarter Jüngling hieße Melchior Balthasar Rindsmaul; thörichte
Eltern haben ihm bei der Taufe diesen unseligen Namen gegeben. Was
thut der unglückliche Jüngling? Er nimmt in der Gesellschaft deu Namen
Romeo Lilienhauch an; denn wer würde ein „Rindsmaul" küssen? kann eine
Julie vom Balkon herab den Namen Balthasar flöten? — Aber was geschieht?
Ein Polizeiadjunkt befindet sich einmal mit dem Jüngling in derselben Ge¬
sellschaft. Es ist ihm unerträglich, daß die Julie des Hanfes nur für Romeo
Angen hat, und er flüstert seiner Nachbarin zu: „Auf Ehre! der junge
Mensch heißt Melchior Balthasar Rindsmaul, ich habe ihm selbst die Auf-
enthaltskarte geschrieben." Die unselige Kunde läuft um, und — der
zarte Jüngling flieht im tiefsten Schmerz auf immer Haus und Stadt!

Nie werde ich es meinem Paß vergeben, daß es dort in der Person-
bcschreibuug heißt: „Nase gewöhnlich." Das könnte Einen zum Selbst¬
mord verleiten, zumal wenn man weiß, welche Rolle die Nase in Lavater's
Physiognomik spielt.

„Glückliches Ungarn," rief ich bei den Worten des Polizeimannes; hier
darf Einen Niemand bei der Nase fassen, kein Paß darf Einem in's Gesicht


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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/374>, abgerufen am 19.05.2024.