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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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wohl aber dessen Kinder zu fürchten haben, allgemeiner bekannt geworden ist, zumal die
snusundzwanzigjährige nnr unter gewissen Bedingungen fünfzehnjährige Militärpflicht.
Im Jahre 18-58 lies ein östreichisches Schiff in Odessa ein, auf welchem sich eine
Anzahl deutscher-Auswanderer befanden, die sich unterhalb der uogaischen Steppe,
östlich vou der Krim niederlassen und deshalb weiter uach Perekop begeben woll¬
ten. Allein als sie in Odessa die erwähnten Verhältnisse erfuhren, beschlossen
sie mit Ausnahme von zwei Familienvätern, deren Kinder schon erwachsen wäre",
und die daher erst ihren Enkeln das schlimme Loos drohen sahen, die Ansiedelung
in Rußland aufzugeben und sich lieber in der Türkei nieder zu lassen, wo wahr¬
scheinlich die Verhältnisse für den Einwanderer weniger erschreckend sind. Der
neue Plau war mit vielen Schwierigkeiten verknüpft, da nicht der hiesige türkische
Gesandte, sondern nur der in Wien die Pässe dahin ändern konnte, daß sie auf
türkischem Gebiete Billigkeit erlangten. Die armen Leute mußten deshalb einige
ihrer Genossen nach Wie" abordern nud K Wochen in Odessa liegeu bleibe".
Sie brachten empfindliche Opfer, um ihre Ansiedelung auf russischem Gebiete auf¬
zugeben.

Die deutschen Einwanderer in Südrußland erregten durch ihre mancherlei
Schulkenntnisse und Fertigkeiten zunächst bei dem Personal der Aemter, mit denen
sie in Berührung kamen, Erstaune". So preist sie in Südrußland die alltägliche
russische Redensart: "lauf dir die Ha"d eines dentschen Bauer," die dem hinge¬
worfen wird, der seine Unterschrift nicht verfertigen kann. Bisweilen ist sogar
die Schreibfertigkeit der dentschen Bauern sür etwas Unglaubliches gehalten worden,
und der junge Graf Lubecki -- seine Familie stammt aus Polen -- machte, um
sich von dem Wunder zu überzeugen, sogar eine Reise von 13 Meilen "ach der
Colonie Marienhof. So waren es deutsche Einwanderer, welche in Südrußland
zu verschiedenen Malen Anträge auf Herstellung eines Schulwesens für den Bauern¬
stand machten.

Zu gleicher Zeit gingen Vorschläge aus den deutscheu Ostseeprovinzen ein,
und zwar von hier aus viel zahlreicher. Schon in dem Jahre 1817 wurde
von einigen Edelleuten in Kurland die Bitte gewagt, der Staat möge doch
eine Bildungsanstalt für kurische DorfschMehrer errichten. Allein diese Bitte
hatte keine Folge und der kurische Landtag war leider damals nicht im Stande,
die wichtige Sache kräftig zu der seinigen zu machen. Das Schulwesen blieb
wie in andern Theilen des Kaiserreichs ein Privilegium der Städte. Und selbst
die Hoffnung schien unterzugehen, als ein späterer Landtag, in Furcht, aller¬
höchste Mißgunst zu ernten, die Sache geradezu vou sich wies. Allein die bäuer¬
lichen Verhältnisse hatten einmal die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Leib¬
verbindlichkeiten waren aufgehoben worden, durch die neue Verfassung Gemeinde¬
gerichte hergestellt, die Frohnlisten regulirt worden u. s. w. Freilich sahen die
meisten Edclherrn in der wissenschaftlichen Bildung des Bauernstandes keinen


wohl aber dessen Kinder zu fürchten haben, allgemeiner bekannt geworden ist, zumal die
snusundzwanzigjährige nnr unter gewissen Bedingungen fünfzehnjährige Militärpflicht.
Im Jahre 18-58 lies ein östreichisches Schiff in Odessa ein, auf welchem sich eine
Anzahl deutscher-Auswanderer befanden, die sich unterhalb der uogaischen Steppe,
östlich vou der Krim niederlassen und deshalb weiter uach Perekop begeben woll¬
ten. Allein als sie in Odessa die erwähnten Verhältnisse erfuhren, beschlossen
sie mit Ausnahme von zwei Familienvätern, deren Kinder schon erwachsen wäre»,
und die daher erst ihren Enkeln das schlimme Loos drohen sahen, die Ansiedelung
in Rußland aufzugeben und sich lieber in der Türkei nieder zu lassen, wo wahr¬
scheinlich die Verhältnisse für den Einwanderer weniger erschreckend sind. Der
neue Plau war mit vielen Schwierigkeiten verknüpft, da nicht der hiesige türkische
Gesandte, sondern nur der in Wien die Pässe dahin ändern konnte, daß sie auf
türkischem Gebiete Billigkeit erlangten. Die armen Leute mußten deshalb einige
ihrer Genossen nach Wie» abordern nud K Wochen in Odessa liegeu bleibe».
Sie brachten empfindliche Opfer, um ihre Ansiedelung auf russischem Gebiete auf¬
zugeben.

Die deutschen Einwanderer in Südrußland erregten durch ihre mancherlei
Schulkenntnisse und Fertigkeiten zunächst bei dem Personal der Aemter, mit denen
sie in Berührung kamen, Erstaune». So preist sie in Südrußland die alltägliche
russische Redensart: „lauf dir die Ha»d eines dentschen Bauer," die dem hinge¬
worfen wird, der seine Unterschrift nicht verfertigen kann. Bisweilen ist sogar
die Schreibfertigkeit der dentschen Bauern sür etwas Unglaubliches gehalten worden,
und der junge Graf Lubecki — seine Familie stammt aus Polen — machte, um
sich von dem Wunder zu überzeugen, sogar eine Reise von 13 Meilen »ach der
Colonie Marienhof. So waren es deutsche Einwanderer, welche in Südrußland
zu verschiedenen Malen Anträge auf Herstellung eines Schulwesens für den Bauern¬
stand machten.

Zu gleicher Zeit gingen Vorschläge aus den deutscheu Ostseeprovinzen ein,
und zwar von hier aus viel zahlreicher. Schon in dem Jahre 1817 wurde
von einigen Edelleuten in Kurland die Bitte gewagt, der Staat möge doch
eine Bildungsanstalt für kurische DorfschMehrer errichten. Allein diese Bitte
hatte keine Folge und der kurische Landtag war leider damals nicht im Stande,
die wichtige Sache kräftig zu der seinigen zu machen. Das Schulwesen blieb
wie in andern Theilen des Kaiserreichs ein Privilegium der Städte. Und selbst
die Hoffnung schien unterzugehen, als ein späterer Landtag, in Furcht, aller¬
höchste Mißgunst zu ernten, die Sache geradezu vou sich wies. Allein die bäuer¬
lichen Verhältnisse hatten einmal die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Leib¬
verbindlichkeiten waren aufgehoben worden, durch die neue Verfassung Gemeinde¬
gerichte hergestellt, die Frohnlisten regulirt worden u. s. w. Freilich sahen die
meisten Edclherrn in der wissenschaftlichen Bildung des Bauernstandes keinen


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[0152] wohl aber dessen Kinder zu fürchten haben, allgemeiner bekannt geworden ist, zumal die snusundzwanzigjährige nnr unter gewissen Bedingungen fünfzehnjährige Militärpflicht. Im Jahre 18-58 lies ein östreichisches Schiff in Odessa ein, auf welchem sich eine Anzahl deutscher-Auswanderer befanden, die sich unterhalb der uogaischen Steppe, östlich vou der Krim niederlassen und deshalb weiter uach Perekop begeben woll¬ ten. Allein als sie in Odessa die erwähnten Verhältnisse erfuhren, beschlossen sie mit Ausnahme von zwei Familienvätern, deren Kinder schon erwachsen wäre», und die daher erst ihren Enkeln das schlimme Loos drohen sahen, die Ansiedelung in Rußland aufzugeben und sich lieber in der Türkei nieder zu lassen, wo wahr¬ scheinlich die Verhältnisse für den Einwanderer weniger erschreckend sind. Der neue Plau war mit vielen Schwierigkeiten verknüpft, da nicht der hiesige türkische Gesandte, sondern nur der in Wien die Pässe dahin ändern konnte, daß sie auf türkischem Gebiete Billigkeit erlangten. Die armen Leute mußten deshalb einige ihrer Genossen nach Wie» abordern nud K Wochen in Odessa liegeu bleibe». Sie brachten empfindliche Opfer, um ihre Ansiedelung auf russischem Gebiete auf¬ zugeben. Die deutschen Einwanderer in Südrußland erregten durch ihre mancherlei Schulkenntnisse und Fertigkeiten zunächst bei dem Personal der Aemter, mit denen sie in Berührung kamen, Erstaune». So preist sie in Südrußland die alltägliche russische Redensart: „lauf dir die Ha»d eines dentschen Bauer," die dem hinge¬ worfen wird, der seine Unterschrift nicht verfertigen kann. Bisweilen ist sogar die Schreibfertigkeit der dentschen Bauern sür etwas Unglaubliches gehalten worden, und der junge Graf Lubecki — seine Familie stammt aus Polen — machte, um sich von dem Wunder zu überzeugen, sogar eine Reise von 13 Meilen »ach der Colonie Marienhof. So waren es deutsche Einwanderer, welche in Südrußland zu verschiedenen Malen Anträge auf Herstellung eines Schulwesens für den Bauern¬ stand machten. Zu gleicher Zeit gingen Vorschläge aus den deutscheu Ostseeprovinzen ein, und zwar von hier aus viel zahlreicher. Schon in dem Jahre 1817 wurde von einigen Edelleuten in Kurland die Bitte gewagt, der Staat möge doch eine Bildungsanstalt für kurische DorfschMehrer errichten. Allein diese Bitte hatte keine Folge und der kurische Landtag war leider damals nicht im Stande, die wichtige Sache kräftig zu der seinigen zu machen. Das Schulwesen blieb wie in andern Theilen des Kaiserreichs ein Privilegium der Städte. Und selbst die Hoffnung schien unterzugehen, als ein späterer Landtag, in Furcht, aller¬ höchste Mißgunst zu ernten, die Sache geradezu vou sich wies. Allein die bäuer¬ lichen Verhältnisse hatten einmal die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Leib¬ verbindlichkeiten waren aufgehoben worden, durch die neue Verfassung Gemeinde¬ gerichte hergestellt, die Frohnlisten regulirt worden u. s. w. Freilich sahen die meisten Edclherrn in der wissenschaftlichen Bildung des Bauernstandes keinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/152>, abgerufen am 19.05.2024.