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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Erforschung der Natur gewidmet hatten, am Schlüsse desselben die ans jenem
mühevollen Pfade gewonnenen allgemeinern Wahrheiten vor aller Welt kund
gaben und so gleichsam zum Abschied ein öffentliches Bekenntnis; über ihre aus
dem Schatze der Thatsachen herausgearbeitete höhere Weltanschauung und Welt¬
weisheit ablegten.

Diesen Schriften reiht sich in würdigster Art ein vor kurzem in deutscher
Sprache erschienenes Werk") des greisen Oersted, des berühmten dänischen
Naturforschers, an, -- eines seltenen Geistes, welcher in sich die fromme Ge¬
mütlichkeit einer liebenswürdigen Dichterseele mit den strengen Arbeiten eines
exacten Physikers bis in sein heiteres Greisenalter hinein zu vereinigen gewußt
hat. -- Der Werth dieser Schrift ist deshalb um so höher anzuschlagen, weil
Oersted vorzugsweise jenen oben erwähnten Zwiespalt der heutigen gebildeten
Welt, den unausgeglichenen Gegensatz von Natur und Geist, zu schlichten über¬
nimmt. Ohne den Boden der stichhaltigen naturwissenschaftlichen Erfahrung zu
verlassen, weist er nach, daß die Welt allenthalben (auch in dem, was wir mate¬
riell und leblos nennen) von den geistigen Gesetzen durchdrungen ist, welche uns
unser Verstand, unser Gemüth, unsere Phantasie offenbart. Die Begriffe des
Wahren, Schönen und Gerechten, ans denen das rohe Bewußtsein und die tra¬
ditionelle Dogmatik eine jenseitige und überirdische Welt geschaffen hat, zeigt
Oersted als Aeußerungen der wirklichen, in den grenzenlosen Räumen des
Weltalls herrschenden allgemeinen Gesetze, welche der Mensch in sich aufnimmt
und, sobald er zur Selbsterkenntniß kommt, in sich wieder findet. So sind also
die Nernnnftgcsetze des Menschengeistes nichts Anderes, als die echten Weltgesetze.
Die große Entdeckung der letzten drei Jahrhunderte, daß alle Naturgesetze, sobald
sie völlig ergründet waren, sich als Vernunftgesetze bewiesen, indem sich bei reif¬
licher Ueberlegung oder Berechnung eine andere Möglichkeit, als die beobachtete
(z. B. hinsichtlich des Falls der Körper, der Bahn der Gestirne) nicht denken
lasse: dieser Satz kehrt sich nun um, indem die Vernunftgesetze des menschlichen
Geistes eben nichts Anderes sind, als die von dem menschlichen Gehirne repro-
ducirten Gesetze des Weltganzen. So löst sich der bisherige Dualismus, die
Gegenüberstellung von Geist und Materie, Seele und Körper, Mensch und
Natur, Diesseits und Jenseits in eine befriedigende Harmonie auf. Die gespen¬
stige Geisterwelt des Mittelalters und der abstracten Philosophenschulen verwan-
delt sich in eine wirkliche blühende Welt voll positiver cwiggültiger Natur¬
gesetze, die sich in denkenden Individuen wiederspiegeln. Nichts geht dabei dem
gläubigen oder künstlerischen Gemüthe verloren, als eben die kränkliche sein-



*) Der Geist in der Natur von Heims Christian Oersted. Deutsch von
K. L. Kannegießer. Nebst einer biographischen Skizze von P. L. Möller und mit
dem Portrait des Verfassers. Leipzig, Verlag von C. B. Lorck. Zweite Auflage. ISSO. 8.

Erforschung der Natur gewidmet hatten, am Schlüsse desselben die ans jenem
mühevollen Pfade gewonnenen allgemeinern Wahrheiten vor aller Welt kund
gaben und so gleichsam zum Abschied ein öffentliches Bekenntnis; über ihre aus
dem Schatze der Thatsachen herausgearbeitete höhere Weltanschauung und Welt¬
weisheit ablegten.

Diesen Schriften reiht sich in würdigster Art ein vor kurzem in deutscher
Sprache erschienenes Werk") des greisen Oersted, des berühmten dänischen
Naturforschers, an, — eines seltenen Geistes, welcher in sich die fromme Ge¬
mütlichkeit einer liebenswürdigen Dichterseele mit den strengen Arbeiten eines
exacten Physikers bis in sein heiteres Greisenalter hinein zu vereinigen gewußt
hat. — Der Werth dieser Schrift ist deshalb um so höher anzuschlagen, weil
Oersted vorzugsweise jenen oben erwähnten Zwiespalt der heutigen gebildeten
Welt, den unausgeglichenen Gegensatz von Natur und Geist, zu schlichten über¬
nimmt. Ohne den Boden der stichhaltigen naturwissenschaftlichen Erfahrung zu
verlassen, weist er nach, daß die Welt allenthalben (auch in dem, was wir mate¬
riell und leblos nennen) von den geistigen Gesetzen durchdrungen ist, welche uns
unser Verstand, unser Gemüth, unsere Phantasie offenbart. Die Begriffe des
Wahren, Schönen und Gerechten, ans denen das rohe Bewußtsein und die tra¬
ditionelle Dogmatik eine jenseitige und überirdische Welt geschaffen hat, zeigt
Oersted als Aeußerungen der wirklichen, in den grenzenlosen Räumen des
Weltalls herrschenden allgemeinen Gesetze, welche der Mensch in sich aufnimmt
und, sobald er zur Selbsterkenntniß kommt, in sich wieder findet. So sind also
die Nernnnftgcsetze des Menschengeistes nichts Anderes, als die echten Weltgesetze.
Die große Entdeckung der letzten drei Jahrhunderte, daß alle Naturgesetze, sobald
sie völlig ergründet waren, sich als Vernunftgesetze bewiesen, indem sich bei reif¬
licher Ueberlegung oder Berechnung eine andere Möglichkeit, als die beobachtete
(z. B. hinsichtlich des Falls der Körper, der Bahn der Gestirne) nicht denken
lasse: dieser Satz kehrt sich nun um, indem die Vernunftgesetze des menschlichen
Geistes eben nichts Anderes sind, als die von dem menschlichen Gehirne repro-
ducirten Gesetze des Weltganzen. So löst sich der bisherige Dualismus, die
Gegenüberstellung von Geist und Materie, Seele und Körper, Mensch und
Natur, Diesseits und Jenseits in eine befriedigende Harmonie auf. Die gespen¬
stige Geisterwelt des Mittelalters und der abstracten Philosophenschulen verwan-
delt sich in eine wirkliche blühende Welt voll positiver cwiggültiger Natur¬
gesetze, die sich in denkenden Individuen wiederspiegeln. Nichts geht dabei dem
gläubigen oder künstlerischen Gemüthe verloren, als eben die kränkliche sein-



*) Der Geist in der Natur von Heims Christian Oersted. Deutsch von
K. L. Kannegießer. Nebst einer biographischen Skizze von P. L. Möller und mit
dem Portrait des Verfassers. Leipzig, Verlag von C. B. Lorck. Zweite Auflage. ISSO. 8.
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[0346] Erforschung der Natur gewidmet hatten, am Schlüsse desselben die ans jenem mühevollen Pfade gewonnenen allgemeinern Wahrheiten vor aller Welt kund gaben und so gleichsam zum Abschied ein öffentliches Bekenntnis; über ihre aus dem Schatze der Thatsachen herausgearbeitete höhere Weltanschauung und Welt¬ weisheit ablegten. Diesen Schriften reiht sich in würdigster Art ein vor kurzem in deutscher Sprache erschienenes Werk") des greisen Oersted, des berühmten dänischen Naturforschers, an, — eines seltenen Geistes, welcher in sich die fromme Ge¬ mütlichkeit einer liebenswürdigen Dichterseele mit den strengen Arbeiten eines exacten Physikers bis in sein heiteres Greisenalter hinein zu vereinigen gewußt hat. — Der Werth dieser Schrift ist deshalb um so höher anzuschlagen, weil Oersted vorzugsweise jenen oben erwähnten Zwiespalt der heutigen gebildeten Welt, den unausgeglichenen Gegensatz von Natur und Geist, zu schlichten über¬ nimmt. Ohne den Boden der stichhaltigen naturwissenschaftlichen Erfahrung zu verlassen, weist er nach, daß die Welt allenthalben (auch in dem, was wir mate¬ riell und leblos nennen) von den geistigen Gesetzen durchdrungen ist, welche uns unser Verstand, unser Gemüth, unsere Phantasie offenbart. Die Begriffe des Wahren, Schönen und Gerechten, ans denen das rohe Bewußtsein und die tra¬ ditionelle Dogmatik eine jenseitige und überirdische Welt geschaffen hat, zeigt Oersted als Aeußerungen der wirklichen, in den grenzenlosen Räumen des Weltalls herrschenden allgemeinen Gesetze, welche der Mensch in sich aufnimmt und, sobald er zur Selbsterkenntniß kommt, in sich wieder findet. So sind also die Nernnnftgcsetze des Menschengeistes nichts Anderes, als die echten Weltgesetze. Die große Entdeckung der letzten drei Jahrhunderte, daß alle Naturgesetze, sobald sie völlig ergründet waren, sich als Vernunftgesetze bewiesen, indem sich bei reif¬ licher Ueberlegung oder Berechnung eine andere Möglichkeit, als die beobachtete (z. B. hinsichtlich des Falls der Körper, der Bahn der Gestirne) nicht denken lasse: dieser Satz kehrt sich nun um, indem die Vernunftgesetze des menschlichen Geistes eben nichts Anderes sind, als die von dem menschlichen Gehirne repro- ducirten Gesetze des Weltganzen. So löst sich der bisherige Dualismus, die Gegenüberstellung von Geist und Materie, Seele und Körper, Mensch und Natur, Diesseits und Jenseits in eine befriedigende Harmonie auf. Die gespen¬ stige Geisterwelt des Mittelalters und der abstracten Philosophenschulen verwan- delt sich in eine wirkliche blühende Welt voll positiver cwiggültiger Natur¬ gesetze, die sich in denkenden Individuen wiederspiegeln. Nichts geht dabei dem gläubigen oder künstlerischen Gemüthe verloren, als eben die kränkliche sein- *) Der Geist in der Natur von Heims Christian Oersted. Deutsch von K. L. Kannegießer. Nebst einer biographischen Skizze von P. L. Möller und mit dem Portrait des Verfassers. Leipzig, Verlag von C. B. Lorck. Zweite Auflage. ISSO. 8.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/346>, abgerufen am 29.05.2024.