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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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sich auf; gerade weil ihr Wesen und Beruf die Harmonie ist, klingt die Dissonanz
am grellsten nach.

Wie krankhaft all unsere moderne Poesie ist, wird die Nachwelt noch leb¬
hafter empfinden, als wir, an deren eigenem Innern sie zehrt. Wir selber kom¬
men schon allmälig dahinter, daß häufig genug, was wir als die höchste Blüthe
unserer Kunst verehren, der herbste Ausdruck unserer Verkehrtheit ist.' Aber indem
die Nachwelt, was wir erstrebt und geschaffen haben, im Großen und Ganzen
überblickt, wird sie milder in ihrem ttrtheil gegen das Einzelne sein; denn sie
weiß die Lösung jener Dissonanzen, die wir noch jedesmal als letztes Resultat
empfinden.

Die lyrische Poesie, weil sie der subjectivste Ausdruck unsers Empfindens
ist, muß das Gepräge der Zeit am deutlichsten tragen; die eigentlich objectiven
Gebiete der Dichtkunst, namentlich das Drama, werden sich nicht ganz aus dem
Gebiet der Lyrik entwinden können: je mehr sie sieh ihm entwinden, desto freier
wird in ihnen das Gedicht von der Färbung der Zeit. -- Lenau ist ganz lyrisch,
obgleich er in Savanarola und den Albigensern einen epischen, im Faust einen
dramatischen Anlauf nimmt. Unter den Lyrikern seit Göthe und Schiller nimmt
er aber, was die Jntensivität des Empfindens betrifft, die höchste Stelle ein.

Mit Göthe und Schiller erreichte die erste Periode unserer Lyrik ihren Ab¬
schluß. Die schönsten ihrer Lieder sind der Ausdruck reiner Menschlichkeit, wenn
anch in der subjectiven Form der Sehnsucht. Die modernen Lyriker -- Uhland,
Heine, Rückert, Anastasius Grün, Herwegh, Freiligrath u. s. w. haben sich in
endlichen Beziehungen verloren. Sie sind in ihrer Zeit sämmtlich überschätzt wor¬
den, weil sie mit großer Energie eine endliche Stimmung, die in einem Augen¬
blick die herrschende war, anschlugen und wiederholten. Uhland'S zierliche Genre¬
bilder, und Arabesken, mit der stehenden mild elegischen Färbung, Heine's Witz,
der ganz gegen seine Natur mit Empfindungen spielt, anstatt mit Vorstellungen,
Rückert'ö und Freiligrath's reicher Sinn für Melodie und Formen, der vergebens
nach einem Inhalt sucht, Herwegh's rhetorisches Pathos, das trotz des gewaltsamen
Anlaufs nicht weiter kommt, weil es von einem Dogma, nicht von einer Anschauung
ausgeht; Grün's lebhafte Reflexion, die niemals den Grundton der Stimmung
und die Plastik des Bildes festhält -- das alles sind bloße Tendenzen. Seit
den Göttern Griechenlands und der Braut vou Korinth ist in Deutschland kein
Gedicht vou Bedeutung, innerer Notwendigkeit und künstlerischer Vollendung
geschrieben worden. Auch Lenau ist weit entfernt, ein Künstler in der vollen Be¬
deutung des Worts zu sein. Wie bei allen östreichischen Dichtern, drangt sich ihm
von Außer her eine chaotische Form von Vorstellungen ans, über die er nicht Herr
werden kann. Sein Denken und Fühlen hat sich nicht organisch ans seinem Volk
entwickelt, es ist im Contrast mit ihm; daher sind seine Formen herb, ungeschickt,
roh, häufig barock. Seine Verse sind Provincialismen, wenn auch weniger als


sich auf; gerade weil ihr Wesen und Beruf die Harmonie ist, klingt die Dissonanz
am grellsten nach.

Wie krankhaft all unsere moderne Poesie ist, wird die Nachwelt noch leb¬
hafter empfinden, als wir, an deren eigenem Innern sie zehrt. Wir selber kom¬
men schon allmälig dahinter, daß häufig genug, was wir als die höchste Blüthe
unserer Kunst verehren, der herbste Ausdruck unserer Verkehrtheit ist.' Aber indem
die Nachwelt, was wir erstrebt und geschaffen haben, im Großen und Ganzen
überblickt, wird sie milder in ihrem ttrtheil gegen das Einzelne sein; denn sie
weiß die Lösung jener Dissonanzen, die wir noch jedesmal als letztes Resultat
empfinden.

Die lyrische Poesie, weil sie der subjectivste Ausdruck unsers Empfindens
ist, muß das Gepräge der Zeit am deutlichsten tragen; die eigentlich objectiven
Gebiete der Dichtkunst, namentlich das Drama, werden sich nicht ganz aus dem
Gebiet der Lyrik entwinden können: je mehr sie sieh ihm entwinden, desto freier
wird in ihnen das Gedicht von der Färbung der Zeit. — Lenau ist ganz lyrisch,
obgleich er in Savanarola und den Albigensern einen epischen, im Faust einen
dramatischen Anlauf nimmt. Unter den Lyrikern seit Göthe und Schiller nimmt
er aber, was die Jntensivität des Empfindens betrifft, die höchste Stelle ein.

Mit Göthe und Schiller erreichte die erste Periode unserer Lyrik ihren Ab¬
schluß. Die schönsten ihrer Lieder sind der Ausdruck reiner Menschlichkeit, wenn
anch in der subjectiven Form der Sehnsucht. Die modernen Lyriker — Uhland,
Heine, Rückert, Anastasius Grün, Herwegh, Freiligrath u. s. w. haben sich in
endlichen Beziehungen verloren. Sie sind in ihrer Zeit sämmtlich überschätzt wor¬
den, weil sie mit großer Energie eine endliche Stimmung, die in einem Augen¬
blick die herrschende war, anschlugen und wiederholten. Uhland'S zierliche Genre¬
bilder, und Arabesken, mit der stehenden mild elegischen Färbung, Heine's Witz,
der ganz gegen seine Natur mit Empfindungen spielt, anstatt mit Vorstellungen,
Rückert'ö und Freiligrath's reicher Sinn für Melodie und Formen, der vergebens
nach einem Inhalt sucht, Herwegh's rhetorisches Pathos, das trotz des gewaltsamen
Anlaufs nicht weiter kommt, weil es von einem Dogma, nicht von einer Anschauung
ausgeht; Grün's lebhafte Reflexion, die niemals den Grundton der Stimmung
und die Plastik des Bildes festhält — das alles sind bloße Tendenzen. Seit
den Göttern Griechenlands und der Braut vou Korinth ist in Deutschland kein
Gedicht vou Bedeutung, innerer Notwendigkeit und künstlerischer Vollendung
geschrieben worden. Auch Lenau ist weit entfernt, ein Künstler in der vollen Be¬
deutung des Worts zu sein. Wie bei allen östreichischen Dichtern, drangt sich ihm
von Außer her eine chaotische Form von Vorstellungen ans, über die er nicht Herr
werden kann. Sein Denken und Fühlen hat sich nicht organisch ans seinem Volk
entwickelt, es ist im Contrast mit ihm; daher sind seine Formen herb, ungeschickt,
roh, häufig barock. Seine Verse sind Provincialismen, wenn auch weniger als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/392>, abgerufen am 19.05.2024.