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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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blieb freilich der schaffende Sprachtrieb, welcher in jedem Volke, in jedem Men¬
schen lebt und jedes Kind drängt, nach Analogie der eingelernten Klänge sich
neue zu schaffen, auch in der Seele der französischen Romanen; aber er schuf nicht
von dein Innern der Stammsilben heraus, deren ursprüngliche Bedeutung dem
Volke unbekannt, deren Form erstarrt war, souderu er spielte wohlgefällig mit dem
imponirenden Klange der Wörter, dieselben willkürlich und unorganisch abkürzend,
dehnend, durch die Nase oder die Kehle ziehend. Eine launische Accentuation trat
an die Stelle der soliden römischen Quantität; die Rohheit, mit welcher die Worte
durch den Silberton belebt wurden, erzeugte auch Rohheit im Versbau, und diese
verhältnißmäßige Rohheit und Einförmigkeit der Verse zwang wieder dazu, den Vers
durch scharfe Declamation, bestimmten wiederkehrenden Tonfall zusammenzuhalten.
Schon vor deu Tragikern, ja schon in der alten lanssuo et'oil und et'oc läßt sich die naive
Freude der Franzosen an dem scharfen Klappen der Verssüße und dem Klingen der
Reime erkennen, über welche ein pathetisch declamirendcrTon hingeschwcbt haben mag,
mit capriciöser Willkür bald die Silben breit anöeinanderspanncnd, bald in nach¬
lässiger Schnelligkeit sortrollend. Als nun die Tragiker des 16. und 17. Jahr¬
hunderts für ihr rhetorisches Pathos den entsprechenden Vers suchten, war der
Alexandriner der allerbeste und prächtigste, den sie verlangen konnten. Schon seit
dem Ende des 13. Jahrhunderts in erzählenden Gedichten angewandt, war er so
recht das Maß für langathmige, hochstilisirte Reden. Gerade was ihn sür uns
Deutsche unangenehm macht, das Klappern der beiden gleichen Theile, die Mo¬
notonie seines Falles, gerade das brauchte der Franzose; denn diese Bestimmtheit
und Festigkeit des Maßes bildete nach seiner Empfindung den nothwendigen Gegen¬
satz zu der höchst ausdrucksvollen und laut dahinrauschenden Modulation der
Stimme, welche er hier mit ""heimlichem Genuß auf den einzelnen Accentsilben
treu"lire"d verweilen ließ, dort mit höchster Energie wie einen Waldstrom fort¬
brausen machte, daß Accente, Cäsnren und Nenne unerbittlich fortgerissen wurden.
Diesen Genuß, welchen Sprechende und Hörende am Klange der tragischen Alexan¬
driner noch heut in Frankreich haben, soll man zuerst beachten, wenn man ihre
tragischen Schauspiele uicht ungerecht beurtheilen will.

Ferner aber erinnere man sich an das Costüm und die Convenienzen dieser
alten Tragödien. Zur Zeit von Corneille und Racine wurden sämmtliche Helden¬
rollen im Staatscostnm ihrer Zeit gespielt, wenigstens mit seinen charakteristischen
Attributen; die Herren trugen unvermeidlich deu Haarputz, die Beinbekleiduug,
den Galanteriedegen des französischen Hofes ; die Damen Robe und Fächer, oder
wenigstens ein Taschentuch. Die drei Gattungen von Costüm, welche man damals
unterschied: antik, türkisch und modern, waren nur in einzelnen Garderobestücken,
bei den Damen manchmal nur im Ausputz der Robe" verschieden. Sprache,
Haltung, Bewegungen sollten die seine Bildung des damaligen Königshofes in's
Erhabenste gesteigert repräsentiren. Der Schritt war ein würdiges Tanzpas, die


Grenzvotcn. III. 1850. 52

blieb freilich der schaffende Sprachtrieb, welcher in jedem Volke, in jedem Men¬
schen lebt und jedes Kind drängt, nach Analogie der eingelernten Klänge sich
neue zu schaffen, auch in der Seele der französischen Romanen; aber er schuf nicht
von dein Innern der Stammsilben heraus, deren ursprüngliche Bedeutung dem
Volke unbekannt, deren Form erstarrt war, souderu er spielte wohlgefällig mit dem
imponirenden Klange der Wörter, dieselben willkürlich und unorganisch abkürzend,
dehnend, durch die Nase oder die Kehle ziehend. Eine launische Accentuation trat
an die Stelle der soliden römischen Quantität; die Rohheit, mit welcher die Worte
durch den Silberton belebt wurden, erzeugte auch Rohheit im Versbau, und diese
verhältnißmäßige Rohheit und Einförmigkeit der Verse zwang wieder dazu, den Vers
durch scharfe Declamation, bestimmten wiederkehrenden Tonfall zusammenzuhalten.
Schon vor deu Tragikern, ja schon in der alten lanssuo et'oil und et'oc läßt sich die naive
Freude der Franzosen an dem scharfen Klappen der Verssüße und dem Klingen der
Reime erkennen, über welche ein pathetisch declamirendcrTon hingeschwcbt haben mag,
mit capriciöser Willkür bald die Silben breit anöeinanderspanncnd, bald in nach¬
lässiger Schnelligkeit sortrollend. Als nun die Tragiker des 16. und 17. Jahr¬
hunderts für ihr rhetorisches Pathos den entsprechenden Vers suchten, war der
Alexandriner der allerbeste und prächtigste, den sie verlangen konnten. Schon seit
dem Ende des 13. Jahrhunderts in erzählenden Gedichten angewandt, war er so
recht das Maß für langathmige, hochstilisirte Reden. Gerade was ihn sür uns
Deutsche unangenehm macht, das Klappern der beiden gleichen Theile, die Mo¬
notonie seines Falles, gerade das brauchte der Franzose; denn diese Bestimmtheit
und Festigkeit des Maßes bildete nach seiner Empfindung den nothwendigen Gegen¬
satz zu der höchst ausdrucksvollen und laut dahinrauschenden Modulation der
Stimme, welche er hier mit »»heimlichem Genuß auf den einzelnen Accentsilben
treu»lire»d verweilen ließ, dort mit höchster Energie wie einen Waldstrom fort¬
brausen machte, daß Accente, Cäsnren und Nenne unerbittlich fortgerissen wurden.
Diesen Genuß, welchen Sprechende und Hörende am Klange der tragischen Alexan¬
driner noch heut in Frankreich haben, soll man zuerst beachten, wenn man ihre
tragischen Schauspiele uicht ungerecht beurtheilen will.

Ferner aber erinnere man sich an das Costüm und die Convenienzen dieser
alten Tragödien. Zur Zeit von Corneille und Racine wurden sämmtliche Helden¬
rollen im Staatscostnm ihrer Zeit gespielt, wenigstens mit seinen charakteristischen
Attributen; die Herren trugen unvermeidlich deu Haarputz, die Beinbekleiduug,
den Galanteriedegen des französischen Hofes ; die Damen Robe und Fächer, oder
wenigstens ein Taschentuch. Die drei Gattungen von Costüm, welche man damals
unterschied: antik, türkisch und modern, waren nur in einzelnen Garderobestücken,
bei den Damen manchmal nur im Ausputz der Robe» verschieden. Sprache,
Haltung, Bewegungen sollten die seine Bildung des damaligen Königshofes in's
Erhabenste gesteigert repräsentiren. Der Schritt war ein würdiges Tanzpas, die


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[0417] blieb freilich der schaffende Sprachtrieb, welcher in jedem Volke, in jedem Men¬ schen lebt und jedes Kind drängt, nach Analogie der eingelernten Klänge sich neue zu schaffen, auch in der Seele der französischen Romanen; aber er schuf nicht von dein Innern der Stammsilben heraus, deren ursprüngliche Bedeutung dem Volke unbekannt, deren Form erstarrt war, souderu er spielte wohlgefällig mit dem imponirenden Klange der Wörter, dieselben willkürlich und unorganisch abkürzend, dehnend, durch die Nase oder die Kehle ziehend. Eine launische Accentuation trat an die Stelle der soliden römischen Quantität; die Rohheit, mit welcher die Worte durch den Silberton belebt wurden, erzeugte auch Rohheit im Versbau, und diese verhältnißmäßige Rohheit und Einförmigkeit der Verse zwang wieder dazu, den Vers durch scharfe Declamation, bestimmten wiederkehrenden Tonfall zusammenzuhalten. Schon vor deu Tragikern, ja schon in der alten lanssuo et'oil und et'oc läßt sich die naive Freude der Franzosen an dem scharfen Klappen der Verssüße und dem Klingen der Reime erkennen, über welche ein pathetisch declamirendcrTon hingeschwcbt haben mag, mit capriciöser Willkür bald die Silben breit anöeinanderspanncnd, bald in nach¬ lässiger Schnelligkeit sortrollend. Als nun die Tragiker des 16. und 17. Jahr¬ hunderts für ihr rhetorisches Pathos den entsprechenden Vers suchten, war der Alexandriner der allerbeste und prächtigste, den sie verlangen konnten. Schon seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in erzählenden Gedichten angewandt, war er so recht das Maß für langathmige, hochstilisirte Reden. Gerade was ihn sür uns Deutsche unangenehm macht, das Klappern der beiden gleichen Theile, die Mo¬ notonie seines Falles, gerade das brauchte der Franzose; denn diese Bestimmtheit und Festigkeit des Maßes bildete nach seiner Empfindung den nothwendigen Gegen¬ satz zu der höchst ausdrucksvollen und laut dahinrauschenden Modulation der Stimme, welche er hier mit »»heimlichem Genuß auf den einzelnen Accentsilben treu»lire»d verweilen ließ, dort mit höchster Energie wie einen Waldstrom fort¬ brausen machte, daß Accente, Cäsnren und Nenne unerbittlich fortgerissen wurden. Diesen Genuß, welchen Sprechende und Hörende am Klange der tragischen Alexan¬ driner noch heut in Frankreich haben, soll man zuerst beachten, wenn man ihre tragischen Schauspiele uicht ungerecht beurtheilen will. Ferner aber erinnere man sich an das Costüm und die Convenienzen dieser alten Tragödien. Zur Zeit von Corneille und Racine wurden sämmtliche Helden¬ rollen im Staatscostnm ihrer Zeit gespielt, wenigstens mit seinen charakteristischen Attributen; die Herren trugen unvermeidlich deu Haarputz, die Beinbekleiduug, den Galanteriedegen des französischen Hofes ; die Damen Robe und Fächer, oder wenigstens ein Taschentuch. Die drei Gattungen von Costüm, welche man damals unterschied: antik, türkisch und modern, waren nur in einzelnen Garderobestücken, bei den Damen manchmal nur im Ausputz der Robe» verschieden. Sprache, Haltung, Bewegungen sollten die seine Bildung des damaligen Königshofes in's Erhabenste gesteigert repräsentiren. Der Schritt war ein würdiges Tanzpas, die Grenzvotcn. III. 1850. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/417>, abgerufen am 27.05.2024.