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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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lebens verschaffen. Auch da ist der Schwindel zu Hanse, anch da gehen die
tüchtigsten Naturen in Geldsucht ans, "ud wir verlieren uns mit darein, denn
man erspart uns nicht eine einzige Rechnung. Nicht bei dem einsamen Liebes-
geflüster, nicht in dem Glanz eines geistvollen Salons, nicht in den nächtlichen
Studien der Gelehrten, nicht in dem anfstrcl'enden Schwung des Dichters kommt
uus der Gedanke an sein (!recM und DvKei. aus dem Sinn. Der Roman hat
sich in die allergemeinste Wirklichkeit des Irdischen verloren, das Geld ist der
Angelpunkt seiner Ideale, seiner Hoffnungen, seiner Begierden. Hinter jeder
seidnen Robe steht das Gespenst des Klciderjudeu, bei jedem Liebesblick durchzittert
es uns insgeheim: wieviel will sie damit verdienen? -- Noch häßlicher wird die
Detailzeichnnng, wenn sie auf das Innere des Haushalts eingeht, wenn sie, um die
Seelengröße eines leidenden Weibes zu zeichnen, uus die Recepte vorhält, die
ihr Mann einnimmt, die Pillen analysirt -- und noch weiter. Denn es geschieht
das Unglaubliche. Und zwar ohne allen Humor, mit dem bittersten Ernst von der
Welt, aus Gewissenhaftigkeit und der Virtuosität halber, die zeigen will, wie be¬
wandert sie in allen Sphären des Kleinlebens ist.

Der rafftnirteste Spiritualismus mit dem crassesten Materialismus im Bunde
und dazu alle die Mittelformen, die aus der Verbindung beider hervorgehen. So
ist eine Schwachheit bei Balzac eigenthümlich: der Aberglaube an den Adel, oder
vielmehr an das vornehme Wesen und das ,jo no sai" Plot, welches jedes Mit¬
glied des Faubourg Se. Germain von der übrigen Welt unterscheidet. Gegen
diese Finesse kommt die Hahn-Hahn nicht ans! Sie classistcirt die Bildung der
Menschen nach der Chaufsüre, bei Balzac ist ein Aufwerfen des Kopses, eine
Bewegung der Augenwimper hinreichend, um das Vollblut zu erkennen. Blumen-
bach construirt aus einem gefundenen Zahn die ganze Bildung eines vorsüudfluth-
lichcn Ungeheuers, vom Horn bis zum Schwanz; Balzac zupft nur einen Faden
ans dem Morgenkleide und wird unfehlbar daraus nachweisen, im wievielten Grade
sich bürgerliches Blut mit der reinen Race vermischt hat.

Ich denke, des Einzelnen wäre genug. Was dieser scheußlichen Unnatur
aber erst ihre volle Bedeutung giebt, ist das sehr große Talent, die wirkliche Be¬
gabung und der wunderbare Reichthum an realen Anschauungen. Rohe Machwerke,
die aus dem Fiebcrwahusiuu einer betrunkenen oder überreizten Phantasie her¬
vorgehen, wie bei Eugen Sue oder auch Früdüric SoiM, nimmt man als eine
Art Naturproduct hiu; diese saubere, zuweilen ängstliche, sehr häufig gracivse
Zeichnung aber, wie sie Balzac giebt; dieser Reichthum nicht nnr an realen An¬
schauungen, sondern auch an tiefen, zarten und schönen Blicken in das menschliche
Herz; dieser Sinn für Wahrheit und dazu diese vollständige Verseuktheit in die
Welt der Lüge, der Eitelkeit, des Wahnsinns und des Verbrechens -- das macht
einen peinlichen, unheimlichen Eindruck. Bacchantische Lust ohne Heiterkeit, raf-
finirte, jesuitische Ausdauer ohne eigentlichen Zweck, Tugend und Herzensgüte


lebens verschaffen. Auch da ist der Schwindel zu Hanse, anch da gehen die
tüchtigsten Naturen in Geldsucht ans, »ud wir verlieren uns mit darein, denn
man erspart uns nicht eine einzige Rechnung. Nicht bei dem einsamen Liebes-
geflüster, nicht in dem Glanz eines geistvollen Salons, nicht in den nächtlichen
Studien der Gelehrten, nicht in dem anfstrcl'enden Schwung des Dichters kommt
uus der Gedanke an sein (!recM und DvKei. aus dem Sinn. Der Roman hat
sich in die allergemeinste Wirklichkeit des Irdischen verloren, das Geld ist der
Angelpunkt seiner Ideale, seiner Hoffnungen, seiner Begierden. Hinter jeder
seidnen Robe steht das Gespenst des Klciderjudeu, bei jedem Liebesblick durchzittert
es uns insgeheim: wieviel will sie damit verdienen? — Noch häßlicher wird die
Detailzeichnnng, wenn sie auf das Innere des Haushalts eingeht, wenn sie, um die
Seelengröße eines leidenden Weibes zu zeichnen, uus die Recepte vorhält, die
ihr Mann einnimmt, die Pillen analysirt — und noch weiter. Denn es geschieht
das Unglaubliche. Und zwar ohne allen Humor, mit dem bittersten Ernst von der
Welt, aus Gewissenhaftigkeit und der Virtuosität halber, die zeigen will, wie be¬
wandert sie in allen Sphären des Kleinlebens ist.

Der rafftnirteste Spiritualismus mit dem crassesten Materialismus im Bunde
und dazu alle die Mittelformen, die aus der Verbindung beider hervorgehen. So
ist eine Schwachheit bei Balzac eigenthümlich: der Aberglaube an den Adel, oder
vielmehr an das vornehme Wesen und das ,jo no sai« Plot, welches jedes Mit¬
glied des Faubourg Se. Germain von der übrigen Welt unterscheidet. Gegen
diese Finesse kommt die Hahn-Hahn nicht ans! Sie classistcirt die Bildung der
Menschen nach der Chaufsüre, bei Balzac ist ein Aufwerfen des Kopses, eine
Bewegung der Augenwimper hinreichend, um das Vollblut zu erkennen. Blumen-
bach construirt aus einem gefundenen Zahn die ganze Bildung eines vorsüudfluth-
lichcn Ungeheuers, vom Horn bis zum Schwanz; Balzac zupft nur einen Faden
ans dem Morgenkleide und wird unfehlbar daraus nachweisen, im wievielten Grade
sich bürgerliches Blut mit der reinen Race vermischt hat.

Ich denke, des Einzelnen wäre genug. Was dieser scheußlichen Unnatur
aber erst ihre volle Bedeutung giebt, ist das sehr große Talent, die wirkliche Be¬
gabung und der wunderbare Reichthum an realen Anschauungen. Rohe Machwerke,
die aus dem Fiebcrwahusiuu einer betrunkenen oder überreizten Phantasie her¬
vorgehen, wie bei Eugen Sue oder auch Früdüric SoiM, nimmt man als eine
Art Naturproduct hiu; diese saubere, zuweilen ängstliche, sehr häufig gracivse
Zeichnung aber, wie sie Balzac giebt; dieser Reichthum nicht nnr an realen An¬
schauungen, sondern auch an tiefen, zarten und schönen Blicken in das menschliche
Herz; dieser Sinn für Wahrheit und dazu diese vollständige Verseuktheit in die
Welt der Lüge, der Eitelkeit, des Wahnsinns und des Verbrechens — das macht
einen peinlichen, unheimlichen Eindruck. Bacchantische Lust ohne Heiterkeit, raf-
finirte, jesuitische Ausdauer ohne eigentlichen Zweck, Tugend und Herzensgüte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/437>, abgerufen am 19.05.2024.