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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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klären ist, in welcher man Ossian und Werther mit der Muttermilch einsaugt, die
aber unser Dichter in Marion de Lorme (1829) in das Zeitalter Richelieu's
verlegt. Ein junger Mann von kaum 20 Jahren, Namens Didier -- beiläufig
ein Findling, was bei den Ansichten des damaligen Zeitalters der noblen Passion
der Blastrtheit einen um so grelleren Anstrich gibt -- sieht ein schönes Frauen¬
zimmer und knüpft ein Liebesverhältnis) mit ihr an, obgleich er lebhafte Gewissens¬
bisse darüber empfindet, denn, sagte er einmal zu ihr: "wie soll ich, der Schicksal-
beladene und Verfluchte, ich, der in der Menge herumkriecht, dieses Wasser stören,
das so schön dahinfließt, diese Lilie pflücken? mit meinem unreinen Athem den
Azur dieser heitern Seele anhauchen? habe ich das Recht, meinen Frost und meine
Nacht mit ihrem Tage M vermählen?" Leider sind diese Deklamationen an eine
berühmte Courtisane gerichtet. Sie hört ihm verwundert zu. "Ich glaube wahr¬
haftig, er predigt. Sollte es ein Hnguenot sein?" -- Nun trägt er seinen Welt¬
schmerz ausführlich vor. "Ich sah die Menschen Und habe gelernt Einige zu hassen,
die Andern zu verachten, denn ich sah nur Hochmuth, Elend und Qual ans diesem
Spiegel, den man Menschenantlitz nennt. So fühle ich mich alt, so jung ich auch
noch bin, und müde der Welt, wie man es ist, wenn man aus ihr entflieht."
Aber diese Liebe gibt ihm neue Schwingen. "Wünschen Sie irgend etwas? und
ist es dazu nöthig, daß ich Jemand umbringe? ihn umbringe, ehe er Zeit hat
ein Wort zu sagen? befehlen Sie nur, no voicU Ein Lächeln ans Ihrem schönen
Munde wird mich für sein Blut hinlänglich bezahlen." -- "Sie sind ein sonder¬
barer Mensch, aber ich habe sie gern so (je vo"8 aimv ainsi)." -- Ans dieses
Stichwort folgt das unvermeidliche: "Wissen Sie denn was Liebe ist?"

mit der nöthigen Würze des französischen Witzes. -- Die Theorie der Liebe ist
ihm geläufiger, als die Praxis. Marion de Lorme beklagt sich einmal gegen ihr
Kammermädchen, wie wenig anstellig er sich zeigt: "Denke Dir, er hat mir noch
nicht einmal die Hand geküßt!" "Ist es möglich! Aber was machen Sie denn
eigentlich mit ihm?" "Ja," sagt sie nach einigem Besinnen, "ich liebe ihn." --
Man kann sich denken, wie die Enttäuschung über den Werth der Geliebten seinen
Weltschmerz steigert. Es kommt ihm ganz gelegen, daß der Cardinal Richelieu
den Einfall hat, ihn hinrichten zu lassen; vorher aber versöhnt er sich noch mit
Marion, diesem "Engel des Himmels, den die Erde befleckt, und die ihn mir
aus einem Uebermaß von Liebe getäuscht hat;" ouum, er wendet sich an das Pu¬
blikum mit der Erklärung, daß er sie noch liebt, und so ist nichts weiter darüber
zu sagen. -- Ich kann übrigens nicht verschweigen, daß Mvlivre's Misanthrop,
das erste große Charakterbild dieser Gattung, auf die Conception dieses Stücks
einen wesentlichen Einfluß ausgeübt hat. -- Hernani (1829) ist insofern ein
Fortschritt gegen Didier, als er für seine Melancholie eine gewisse historische Be-


klären ist, in welcher man Ossian und Werther mit der Muttermilch einsaugt, die
aber unser Dichter in Marion de Lorme (1829) in das Zeitalter Richelieu's
verlegt. Ein junger Mann von kaum 20 Jahren, Namens Didier — beiläufig
ein Findling, was bei den Ansichten des damaligen Zeitalters der noblen Passion
der Blastrtheit einen um so grelleren Anstrich gibt — sieht ein schönes Frauen¬
zimmer und knüpft ein Liebesverhältnis) mit ihr an, obgleich er lebhafte Gewissens¬
bisse darüber empfindet, denn, sagte er einmal zu ihr: „wie soll ich, der Schicksal-
beladene und Verfluchte, ich, der in der Menge herumkriecht, dieses Wasser stören,
das so schön dahinfließt, diese Lilie pflücken? mit meinem unreinen Athem den
Azur dieser heitern Seele anhauchen? habe ich das Recht, meinen Frost und meine
Nacht mit ihrem Tage M vermählen?" Leider sind diese Deklamationen an eine
berühmte Courtisane gerichtet. Sie hört ihm verwundert zu. „Ich glaube wahr¬
haftig, er predigt. Sollte es ein Hnguenot sein?" — Nun trägt er seinen Welt¬
schmerz ausführlich vor. „Ich sah die Menschen Und habe gelernt Einige zu hassen,
die Andern zu verachten, denn ich sah nur Hochmuth, Elend und Qual ans diesem
Spiegel, den man Menschenantlitz nennt. So fühle ich mich alt, so jung ich auch
noch bin, und müde der Welt, wie man es ist, wenn man aus ihr entflieht."
Aber diese Liebe gibt ihm neue Schwingen. „Wünschen Sie irgend etwas? und
ist es dazu nöthig, daß ich Jemand umbringe? ihn umbringe, ehe er Zeit hat
ein Wort zu sagen? befehlen Sie nur, no voicU Ein Lächeln ans Ihrem schönen
Munde wird mich für sein Blut hinlänglich bezahlen." — „Sie sind ein sonder¬
barer Mensch, aber ich habe sie gern so (je vo»8 aimv ainsi)." — Ans dieses
Stichwort folgt das unvermeidliche: „Wissen Sie denn was Liebe ist?"

mit der nöthigen Würze des französischen Witzes. — Die Theorie der Liebe ist
ihm geläufiger, als die Praxis. Marion de Lorme beklagt sich einmal gegen ihr
Kammermädchen, wie wenig anstellig er sich zeigt: „Denke Dir, er hat mir noch
nicht einmal die Hand geküßt!" „Ist es möglich! Aber was machen Sie denn
eigentlich mit ihm?" „Ja," sagt sie nach einigem Besinnen, „ich liebe ihn." —
Man kann sich denken, wie die Enttäuschung über den Werth der Geliebten seinen
Weltschmerz steigert. Es kommt ihm ganz gelegen, daß der Cardinal Richelieu
den Einfall hat, ihn hinrichten zu lassen; vorher aber versöhnt er sich noch mit
Marion, diesem „Engel des Himmels, den die Erde befleckt, und die ihn mir
aus einem Uebermaß von Liebe getäuscht hat;" ouum, er wendet sich an das Pu¬
blikum mit der Erklärung, daß er sie noch liebt, und so ist nichts weiter darüber
zu sagen. — Ich kann übrigens nicht verschweigen, daß Mvlivre's Misanthrop,
das erste große Charakterbild dieser Gattung, auf die Conception dieses Stücks
einen wesentlichen Einfluß ausgeübt hat. — Hernani (1829) ist insofern ein
Fortschritt gegen Didier, als er für seine Melancholie eine gewisse historische Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/50>, abgerufen am 22.05.2024.