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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Eine der bedeutendsten Rollen, welche der alte Weiß noch in neuerer Zeit
geschaffen, ist der Rath Prasser in dem Bayard'schen Lustspiel "Er muß aufs
Land". Mit meisterhaft ergriffener Lebenswahrheit, und eben darum auch mit der
entschiedensten Wirkung, zeichnete er den frömmelnden Schleicher. Als dieser im
dritten Acte der kräftig ausgesprochenen, vernünftigen Lebensansicht des Marinc-
Officiers Cäsar Freimaur gegenüber die Ruhe seiner künstlichen Heiligkeit und
die Besinnung verliert, war dies in dem Weiß'schen Spiele ein Moment, dem
ich an überzeugender Kraft wenige meiner Bühnen-Eindrücke gleichstellen kann.
Wie aus Zorn und Wuth völlige Ohnmacht des Willens hervorging, wie die
geistige Impotenz gedankenloser Pietistcrei in der zitternden Haltung, den macht¬
losen Gesticulationen, den uuarticulirt, wie ans zugeschnürter Kehle, hervorge¬
stoßenen Tönen ihren Ausdruck fand, läßt sich schwer beschreiben. Das Publi-
cum jubelte dieser Darstellung eines Veteranen zu, der seiue Kunst nicht allein
dem Einflüsse trefflicher Muster und einem nacheifernden Studium, sondern eben
so sehr einem eigenthümlichen Lebensgange verdankt.

Christian Weiß ist ein geborener Magdeburger und Sohn eines dortigen
Dienstmädchens. Durch die Stellung seiner Mutter wurde er als Kind früh¬
zeitig in den Kreis einer wohlwollenden und gebildeten Familie gezogen, und kam
dann uuter die Leitung einer alten, würdigen Dame, die mehrere Pensionaire
in ihre Wohnung aufgenommen hatte. Unter diesen befanden sich ein Paar
junge Leute, von denen der Eine sich der Malerei widmete, der Andere sich
literarischen Studien überließ. Mit ihnen verkehrte der Knabe häufig, und ge¬
wann sehr früh Gelegenheit, sich einer eifrigen, aber sehr gemischten Lecture zu
befleißigen, welche seine Phantasie erregte, und ihm den Kopf mit allerlei bunten,
zum Theil höchst romantischen Gedankenspänen anfüllte.

Nach dem Tode seiner Mutter kam er in das Magdeburger Waisenhaus,
wo er zuerst einen regelmäßigen Schulunterricht erhielt. Mit vierzehn Jahren
gab man ihn zu einem Handschuhmacher in die Lehre, ein Gewerbe, das ihm
garnicht zusagen wollte, und welchem ihn eine Verletzung am Mittelfinger der
rechten Hand entzog. Da dieselbe in eine Art von Knochenfraß überging, so
wurde der junge Mensch in die -- irre ich nicht -- mit dem Waisenhause in
Verbindung stehende Krankenanstalt gebracht, um geheilt zu werden. Hier fand
er bald an den Verrichtungen der Wundärzte ein besonderes Gefallen. Seine
rege Phantasie, welche dem Geist keine Ruhe gönnte, verlangte einen Gegenstand,
dem er sich mit Theilnahme und Eifer anschließen könne, und so wurde er durch
kleine Handleistungen allmählich zum Gehilfen eines der beaufsichtigenden Aerzte.
Mit Aufmerksamkeit machte er an Dessen Praxis chirurgische Studien, ließ sich
von Demselben unterweisen, und sand eine entgegenkommende Bereitwilligkeit, die
seine Lust zum Lernen unterstützte. Er wußte sich gleichzeitig verschiedene wissen¬
schaftliche Werke physiologischen und anatomischen Inhalts zu verschaffen, durch


Eine der bedeutendsten Rollen, welche der alte Weiß noch in neuerer Zeit
geschaffen, ist der Rath Prasser in dem Bayard'schen Lustspiel „Er muß aufs
Land". Mit meisterhaft ergriffener Lebenswahrheit, und eben darum auch mit der
entschiedensten Wirkung, zeichnete er den frömmelnden Schleicher. Als dieser im
dritten Acte der kräftig ausgesprochenen, vernünftigen Lebensansicht des Marinc-
Officiers Cäsar Freimaur gegenüber die Ruhe seiner künstlichen Heiligkeit und
die Besinnung verliert, war dies in dem Weiß'schen Spiele ein Moment, dem
ich an überzeugender Kraft wenige meiner Bühnen-Eindrücke gleichstellen kann.
Wie aus Zorn und Wuth völlige Ohnmacht des Willens hervorging, wie die
geistige Impotenz gedankenloser Pietistcrei in der zitternden Haltung, den macht¬
losen Gesticulationen, den uuarticulirt, wie ans zugeschnürter Kehle, hervorge¬
stoßenen Tönen ihren Ausdruck fand, läßt sich schwer beschreiben. Das Publi-
cum jubelte dieser Darstellung eines Veteranen zu, der seiue Kunst nicht allein
dem Einflüsse trefflicher Muster und einem nacheifernden Studium, sondern eben
so sehr einem eigenthümlichen Lebensgange verdankt.

Christian Weiß ist ein geborener Magdeburger und Sohn eines dortigen
Dienstmädchens. Durch die Stellung seiner Mutter wurde er als Kind früh¬
zeitig in den Kreis einer wohlwollenden und gebildeten Familie gezogen, und kam
dann uuter die Leitung einer alten, würdigen Dame, die mehrere Pensionaire
in ihre Wohnung aufgenommen hatte. Unter diesen befanden sich ein Paar
junge Leute, von denen der Eine sich der Malerei widmete, der Andere sich
literarischen Studien überließ. Mit ihnen verkehrte der Knabe häufig, und ge¬
wann sehr früh Gelegenheit, sich einer eifrigen, aber sehr gemischten Lecture zu
befleißigen, welche seine Phantasie erregte, und ihm den Kopf mit allerlei bunten,
zum Theil höchst romantischen Gedankenspänen anfüllte.

Nach dem Tode seiner Mutter kam er in das Magdeburger Waisenhaus,
wo er zuerst einen regelmäßigen Schulunterricht erhielt. Mit vierzehn Jahren
gab man ihn zu einem Handschuhmacher in die Lehre, ein Gewerbe, das ihm
garnicht zusagen wollte, und welchem ihn eine Verletzung am Mittelfinger der
rechten Hand entzog. Da dieselbe in eine Art von Knochenfraß überging, so
wurde der junge Mensch in die — irre ich nicht — mit dem Waisenhause in
Verbindung stehende Krankenanstalt gebracht, um geheilt zu werden. Hier fand
er bald an den Verrichtungen der Wundärzte ein besonderes Gefallen. Seine
rege Phantasie, welche dem Geist keine Ruhe gönnte, verlangte einen Gegenstand,
dem er sich mit Theilnahme und Eifer anschließen könne, und so wurde er durch
kleine Handleistungen allmählich zum Gehilfen eines der beaufsichtigenden Aerzte.
Mit Aufmerksamkeit machte er an Dessen Praxis chirurgische Studien, ließ sich
von Demselben unterweisen, und sand eine entgegenkommende Bereitwilligkeit, die
seine Lust zum Lernen unterstützte. Er wußte sich gleichzeitig verschiedene wissen¬
schaftliche Werke physiologischen und anatomischen Inhalts zu verschaffen, durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/58>, abgerufen am 26.05.2024.