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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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es fehlt ihm jene poetische Gluth, die bei diesem Dichter Allegorie und Realität
so in einander verschmilzt, daß wir uns auch in dem Jenseits zu Hause zu finden
glauben, und jene tiefe Innigkeit der Sehnsucht, die uns anzieht, auch wo wir
ihren Gegenstand nicht billigen. Bei Brentano wie bei Arnim liegt die ideale
Welt außerhalb der realen, die eine hemmt und verwirrt die audere, und wir
hören mir die Dissonanzen heraus.

Ich habe mich bis jetzt lediglich auf den Standpunkt jener subjectiven Lyrik
versetzt, die sich durch ihre bloße Existenz zu rechtfertigen glaubt. Noch härter
wird aber das Urtheil, wenn wir den Maßstab anlegen, der doch bei der wahren ^
Kunst nicht fehlen darf. Neben jenen formellen Anforderungen der einheitlichen
Melodie und Stimmung, und der Klarheit und plastischen Sicherheit der Zeich¬
nung muß man auch noch die Forderung der Wahrheit stellen. Der Dichter muß
das Gefühl, das er darstellen will, in individueller Lebendigkeit erlebt haben; sein
Herz muß die Nothwendigkeit suhlen, sich auszuströmen; und auf der andern
Seite müssen die Ideen, die doch jedem Gefühl zu Grunde liegen, nicht blos jene
subjective Grille enthalten, sondern eine allgemeine Wahrheit prophetisch verkünden-
Von Beiden ist bei Brentano keine Rede. Wir empfinden nie einen'tieft"
Schmerz heraus, sondern nur eine allgemeine Unbehaglichkeit, nie die freudige
Siegesgewißheit eines erhebenden und beseelenden Gedankens, sondern ein coquettes
Getändel mit Sorgen und Hoffnungen, die darum zu keinem Abschluß komme"/
weil sie uicht den Muth haben, in die Tiefe zu gehen. Wenn es auf der einen
Seite erfreulich ist, daß in diesen Legenden, Kirchenliedern, sonntäglichen Evan¬
gelien u. s. w. sich weniger Bigotterie vorfindet, als man es nach den Novellen
erwarten sollte, so machen die pietistischen Spielereien, die häufig an das Herrn-
huter Gesangbuch erinnern, doch einen höchst unerquicklichen Eindruck. Wir haben
überall die peinigende Empfindung, daß wir es mit Lüge und Unnatur zu thu"
haben, was dadurch keineswegs gemildert wird, daß die Lüge nicht Andere, son¬
dern das Gemüth des Dichters selbst trifft. -

Bei dem Erscheinen der übrigen Bände werden wir diese Kritik weiter fort¬
setzen. Der zweite Band wird die weltlichen Gedichte enthalten, der dritte einen
bisher noch ungedruckten Nvmanzencyclus vom Rosenkranz, der fünfte die Fort¬
setzung der kleinen Schriften: Hinkel, Gockel und Gackcleia, die Geschichte des.
ersten Bärenhäuters u. s. w., auch ein Fragment ans Godwi, welchen Roman
nach unsrer Ansicht der Herausgeber hätte ganz aufnehmen sollen, da er doch
zum Gesammtbild des Dichters nothwendig ist; der sechste Band die Gründung
Prags, der siebente die Komödien: Ponce de Leon, Die lustigen Musikanten,
Victoria und ihre Geschwister mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte, n"d
I. S> Am Rhein, am Rhein!




es fehlt ihm jene poetische Gluth, die bei diesem Dichter Allegorie und Realität
so in einander verschmilzt, daß wir uns auch in dem Jenseits zu Hause zu finden
glauben, und jene tiefe Innigkeit der Sehnsucht, die uns anzieht, auch wo wir
ihren Gegenstand nicht billigen. Bei Brentano wie bei Arnim liegt die ideale
Welt außerhalb der realen, die eine hemmt und verwirrt die audere, und wir
hören mir die Dissonanzen heraus.

Ich habe mich bis jetzt lediglich auf den Standpunkt jener subjectiven Lyrik
versetzt, die sich durch ihre bloße Existenz zu rechtfertigen glaubt. Noch härter
wird aber das Urtheil, wenn wir den Maßstab anlegen, der doch bei der wahren ^
Kunst nicht fehlen darf. Neben jenen formellen Anforderungen der einheitlichen
Melodie und Stimmung, und der Klarheit und plastischen Sicherheit der Zeich¬
nung muß man auch noch die Forderung der Wahrheit stellen. Der Dichter muß
das Gefühl, das er darstellen will, in individueller Lebendigkeit erlebt haben; sein
Herz muß die Nothwendigkeit suhlen, sich auszuströmen; und auf der andern
Seite müssen die Ideen, die doch jedem Gefühl zu Grunde liegen, nicht blos jene
subjective Grille enthalten, sondern eine allgemeine Wahrheit prophetisch verkünden-
Von Beiden ist bei Brentano keine Rede. Wir empfinden nie einen'tieft»
Schmerz heraus, sondern nur eine allgemeine Unbehaglichkeit, nie die freudige
Siegesgewißheit eines erhebenden und beseelenden Gedankens, sondern ein coquettes
Getändel mit Sorgen und Hoffnungen, die darum zu keinem Abschluß komme«/
weil sie uicht den Muth haben, in die Tiefe zu gehen. Wenn es auf der einen
Seite erfreulich ist, daß in diesen Legenden, Kirchenliedern, sonntäglichen Evan¬
gelien u. s. w. sich weniger Bigotterie vorfindet, als man es nach den Novellen
erwarten sollte, so machen die pietistischen Spielereien, die häufig an das Herrn-
huter Gesangbuch erinnern, doch einen höchst unerquicklichen Eindruck. Wir haben
überall die peinigende Empfindung, daß wir es mit Lüge und Unnatur zu thu»
haben, was dadurch keineswegs gemildert wird, daß die Lüge nicht Andere, son¬
dern das Gemüth des Dichters selbst trifft. -

Bei dem Erscheinen der übrigen Bände werden wir diese Kritik weiter fort¬
setzen. Der zweite Band wird die weltlichen Gedichte enthalten, der dritte einen
bisher noch ungedruckten Nvmanzencyclus vom Rosenkranz, der fünfte die Fort¬
setzung der kleinen Schriften: Hinkel, Gockel und Gackcleia, die Geschichte des.
ersten Bärenhäuters u. s. w., auch ein Fragment ans Godwi, welchen Roman
nach unsrer Ansicht der Herausgeber hätte ganz aufnehmen sollen, da er doch
zum Gesammtbild des Dichters nothwendig ist; der sechste Band die Gründung
Prags, der siebente die Komödien: Ponce de Leon, Die lustigen Musikanten,
Victoria und ihre Geschwister mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte, n»d
I. S> Am Rhein, am Rhein!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/212>, abgerufen am 06.05.2024.