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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Jnstizbeamter; Winterfell, der in seiner Geschichte des "'angelischen Kirchen-
gesangs einen reichen Schatz von Gelehrsamkeit niedergelegt hat. ist Tribuuals-
r^es in Berlin. Von den berühmtesten CompvsitivnSlchrern dieses Jahrhunderts
starb der eine, Gottfried Weber, -18:?!) als Gcneralstaatsprvcnrator; der andere,
Marx, studirte ursprünglich Jura, und war bereits in den Staatsdienst eingetreten,
bevor er sich der Musik ausschließlich widmete. Wie selten ist dagegen der Fall,
daß Musiker, die von früher Jugend an ihre Kunst als Fachstudium treiben, sich
um so viel wissenschaftliche Bildung bemühen, -als auch nur für ein tieferes geistiges
Verständniß der Musik nothwendig ist. Der wahre Musiker muß seine technischen
Studien und sein musikalisches Phantasieleben mit der Betheiligung an deu idealen,
Listigen Bestrebungen der Zeit in ein vollkommenes Gleichgewicht bringen; nur
diese Harmonie von Seele und Leib kann zu einem wahrhaft befriedigenden Ziele
führen. Außerdem aber wird er in einem höhern Grade, als es früher der Fall
war, deö historischen Studiums der Musik bedürfen. Die ausschließlich naive
Weise des Schaffens ist heute wol nicht mehr möglich, wir müssen suchen, und
^war nach einer rationellen Methode suchen.

Hierauf nun arbeitete auch Thibaut schou hin, und es ist dies ein
bestimmt ausgesprochener Hauptzweck seines Werkes, das genaue Studium clas¬
sischer Meisterwerke bei den Musikern anzuregen. Er erinnert daran, wie gründ¬
lich die alten Meister, ein Bach, Händel, Hasse ". s. w. die Partituren älterer
Componisten studirt hätten; er führt bittere Klagen darüber, wie wenig sich die
Aüugern solche Studien angelegen sein ließe", nud wie beschränkt ihre Kenntniß
des Classischen sei; er lM ihnen als Spiegel den ernsten Fleiß der Maler vor,
bei denen die genaue Kenntniß der Geschichte ihrer Kunst eine ^>n.1it.i., ^im:
ist. Jetzt freilich hat sich die Einsicht, das; das Studium classischer Parti¬
turen einender wichtigsten Bildungsmittel für den Musiker ist, schou allgemein
^ahn gebrochen. Die Art aber, wie diese Studien getrieben werden, ist weniger
^ne historische, als eine ästhetische oder technische, "ut dies scheint mir ein Mangel.
Die specifisch historische Auffassung, die z. B. in Betreff der Poesie eine ganz
geläufige und selbst auf deu Schulen gebräuchliche geworden ist, scheint mich noch
Thibaut fern gelegen, zu haben. Einen vollständigen, wenn auch nur ganz allge¬
meinen Ueberblick'über die Geschichte der Musik, etwa seit dem funfzehnte" Jahr¬
hundert, besitzen sehr Wenige; man kennt hier Etwas, dort Etwas, aber es fehlt
^e Kenntniß deö Zusammenhangs; überall sind wesentliche Lücken, nud darum
^scheint denn jedes einzelne Kunstwerk nnr als etwas Einzelnes; die Beurthei¬
lung und das Verständniß ist nicht objectiv, d. h. aus dem eigenthümlichen Geist
Zeit heraus, der es seine Entstehung verdankt. Die Folge davon ist die,
^ß auch keine Ahnung über das Wesen der weitern Entwickelung möglich ist,
U"d daß die Zusammenfassung der früher dagewesenen Richtungen zu einem hö¬
hern Ganzen, was doch für einen wahrhaften Fortschritt die Hauptsache ist, in
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Jnstizbeamter; Winterfell, der in seiner Geschichte des «'angelischen Kirchen-
gesangs einen reichen Schatz von Gelehrsamkeit niedergelegt hat. ist Tribuuals-
r^es in Berlin. Von den berühmtesten CompvsitivnSlchrern dieses Jahrhunderts
starb der eine, Gottfried Weber, -18:?!) als Gcneralstaatsprvcnrator; der andere,
Marx, studirte ursprünglich Jura, und war bereits in den Staatsdienst eingetreten,
bevor er sich der Musik ausschließlich widmete. Wie selten ist dagegen der Fall,
daß Musiker, die von früher Jugend an ihre Kunst als Fachstudium treiben, sich
um so viel wissenschaftliche Bildung bemühen, -als auch nur für ein tieferes geistiges
Verständniß der Musik nothwendig ist. Der wahre Musiker muß seine technischen
Studien und sein musikalisches Phantasieleben mit der Betheiligung an deu idealen,
Listigen Bestrebungen der Zeit in ein vollkommenes Gleichgewicht bringen; nur
diese Harmonie von Seele und Leib kann zu einem wahrhaft befriedigenden Ziele
führen. Außerdem aber wird er in einem höhern Grade, als es früher der Fall
war, deö historischen Studiums der Musik bedürfen. Die ausschließlich naive
Weise des Schaffens ist heute wol nicht mehr möglich, wir müssen suchen, und
^war nach einer rationellen Methode suchen.

Hierauf nun arbeitete auch Thibaut schou hin, und es ist dies ein
bestimmt ausgesprochener Hauptzweck seines Werkes, das genaue Studium clas¬
sischer Meisterwerke bei den Musikern anzuregen. Er erinnert daran, wie gründ¬
lich die alten Meister, ein Bach, Händel, Hasse ». s. w. die Partituren älterer
Componisten studirt hätten; er führt bittere Klagen darüber, wie wenig sich die
Aüugern solche Studien angelegen sein ließe», nud wie beschränkt ihre Kenntniß
des Classischen sei; er lM ihnen als Spiegel den ernsten Fleiß der Maler vor,
bei denen die genaue Kenntniß der Geschichte ihrer Kunst eine ^>n.1it.i., ^im:
ist. Jetzt freilich hat sich die Einsicht, das; das Studium classischer Parti¬
turen einender wichtigsten Bildungsmittel für den Musiker ist, schou allgemein
^ahn gebrochen. Die Art aber, wie diese Studien getrieben werden, ist weniger
^ne historische, als eine ästhetische oder technische, »ut dies scheint mir ein Mangel.
Die specifisch historische Auffassung, die z. B. in Betreff der Poesie eine ganz
geläufige und selbst auf deu Schulen gebräuchliche geworden ist, scheint mich noch
Thibaut fern gelegen, zu haben. Einen vollständigen, wenn auch nur ganz allge¬
meinen Ueberblick'über die Geschichte der Musik, etwa seit dem funfzehnte» Jahr¬
hundert, besitzen sehr Wenige; man kennt hier Etwas, dort Etwas, aber es fehlt
^e Kenntniß deö Zusammenhangs; überall sind wesentliche Lücken, nud darum
^scheint denn jedes einzelne Kunstwerk nnr als etwas Einzelnes; die Beurthei¬
lung und das Verständniß ist nicht objectiv, d. h. aus dem eigenthümlichen Geist
Zeit heraus, der es seine Entstehung verdankt. Die Folge davon ist die,
^ß auch keine Ahnung über das Wesen der weitern Entwickelung möglich ist,
U"d daß die Zusammenfassung der früher dagewesenen Richtungen zu einem hö¬
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[0029] Jnstizbeamter; Winterfell, der in seiner Geschichte des «'angelischen Kirchen- gesangs einen reichen Schatz von Gelehrsamkeit niedergelegt hat. ist Tribuuals- r^es in Berlin. Von den berühmtesten CompvsitivnSlchrern dieses Jahrhunderts starb der eine, Gottfried Weber, -18:?!) als Gcneralstaatsprvcnrator; der andere, Marx, studirte ursprünglich Jura, und war bereits in den Staatsdienst eingetreten, bevor er sich der Musik ausschließlich widmete. Wie selten ist dagegen der Fall, daß Musiker, die von früher Jugend an ihre Kunst als Fachstudium treiben, sich um so viel wissenschaftliche Bildung bemühen, -als auch nur für ein tieferes geistiges Verständniß der Musik nothwendig ist. Der wahre Musiker muß seine technischen Studien und sein musikalisches Phantasieleben mit der Betheiligung an deu idealen, Listigen Bestrebungen der Zeit in ein vollkommenes Gleichgewicht bringen; nur diese Harmonie von Seele und Leib kann zu einem wahrhaft befriedigenden Ziele führen. Außerdem aber wird er in einem höhern Grade, als es früher der Fall war, deö historischen Studiums der Musik bedürfen. Die ausschließlich naive Weise des Schaffens ist heute wol nicht mehr möglich, wir müssen suchen, und ^war nach einer rationellen Methode suchen. Hierauf nun arbeitete auch Thibaut schou hin, und es ist dies ein bestimmt ausgesprochener Hauptzweck seines Werkes, das genaue Studium clas¬ sischer Meisterwerke bei den Musikern anzuregen. Er erinnert daran, wie gründ¬ lich die alten Meister, ein Bach, Händel, Hasse ». s. w. die Partituren älterer Componisten studirt hätten; er führt bittere Klagen darüber, wie wenig sich die Aüugern solche Studien angelegen sein ließe», nud wie beschränkt ihre Kenntniß des Classischen sei; er lM ihnen als Spiegel den ernsten Fleiß der Maler vor, bei denen die genaue Kenntniß der Geschichte ihrer Kunst eine ^>n.1it.i., ^im: ist. Jetzt freilich hat sich die Einsicht, das; das Studium classischer Parti¬ turen einender wichtigsten Bildungsmittel für den Musiker ist, schou allgemein ^ahn gebrochen. Die Art aber, wie diese Studien getrieben werden, ist weniger ^ne historische, als eine ästhetische oder technische, »ut dies scheint mir ein Mangel. Die specifisch historische Auffassung, die z. B. in Betreff der Poesie eine ganz geläufige und selbst auf deu Schulen gebräuchliche geworden ist, scheint mich noch Thibaut fern gelegen, zu haben. Einen vollständigen, wenn auch nur ganz allge¬ meinen Ueberblick'über die Geschichte der Musik, etwa seit dem funfzehnte» Jahr¬ hundert, besitzen sehr Wenige; man kennt hier Etwas, dort Etwas, aber es fehlt ^e Kenntniß deö Zusammenhangs; überall sind wesentliche Lücken, nud darum ^scheint denn jedes einzelne Kunstwerk nnr als etwas Einzelnes; die Beurthei¬ lung und das Verständniß ist nicht objectiv, d. h. aus dem eigenthümlichen Geist Zeit heraus, der es seine Entstehung verdankt. Die Folge davon ist die, ^ß auch keine Ahnung über das Wesen der weitern Entwickelung möglich ist, U"d daß die Zusammenfassung der früher dagewesenen Richtungen zu einem hö¬ hern Ganzen, was doch für einen wahrhaften Fortschritt die Hauptsache ist, in ^ rcnzbvten, IV. I8!>1. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/29>, abgerufen am 27.04.2024.