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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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analysirt, bis man über der Aufmerksamkeit auf das Detail die Hauptsache ganz
ans dem Auge verliert, ist mau auf die seltsame Idee gekommen, der Protestan¬
tismus sei eigentlich in religiöser Hinsicht' ein Rückschritt gewesen. Man hat dabei
lediglich auf die Lehren Bezug genommen, und da ist nicht zu bestreiten, daß in
einzelnen Punkten der lutherische oder calvinistische Dogmatismus den gewöhnli¬
chen Vorstellungen stärker widerspricht, als irgend ein Artikel des katholischen Ka¬
techismus. Allein der Protestantismus ist nur in seinem Raisonnement paradox,
und da sich hinter jedem Raisonnement doch irgend ein Gedanke verbergen muß,
so kann man demselben ein anderes entgegensetzen. So lange der Gegensatz eine
Discussion zuläßt, läßt er auch eine Vermittelung zu. In praktischer Beziehung
dagegen hat der Protestantismus eine Revolution herbeigeführt, die als die vollkom¬
men ausreichende Grundlage aller weitern sittlichen Entwickelung betrachtet werden
kann, die noch Reformen, aber keine Revolutionen mehr zuläßt. Ich will von dem
verwickelten System der katholischen Sittlichkeit, welches beständig zu einer Revo¬
lution herausfordert, hier uur auf einige Punkte aufmerksam machen, das Cälibat
der Geistlichen, die Unauflöslichkeit der Ehe, die blinde Disciplin innerhalb der
Kirche und die Continuität des Wunders. In alleil diesen Punkten war der
Idealismus so hoch angespannt, daß er nicht durch Raisonnement, sondern nur
dnrch Spott und durch Leichtfertigkeit in der Praxis zu bekämpfen war. Aus
dem Cälibat gingen die galanten Abbas hervor, welche in der Gesellschaft des
18. Jahrhunderts eine Hauptrolle spielten, ans der Unauflöslichkeit der Ehe je-,
ner grenzenlose Leichtsinn in Beziehung aus die eheliche Treue, der sich noch bis
auf unsre Tage erstreckt, und der nicht nnr in dem strenger denkenden England,
sondern selbst in Dentschland eine gerechte Entrüstung hervorruft. Mit der stren¬
gen Disciplin der Geistlichkeit hing die vollständige Trennung der bürgerlichen
von. der geistlichen Welt zusammen, und der Glaube an die Continuität des Wun-
ders, d. h. an eine fortwährende Unterbrechung des Naturlaufs, machte die Wis¬
senschaft zur Feindin der Kirche. In allen diesen Punkten ließ der Protestan¬
tismus nicht nur eine Vermittelung mit der öffentlichen Meinung zu, sondern er
gab ihr eigentlich auch den realen Hält, und so kam es, daß sich unsre Philosophie
zum großen Theil in theologischen Formen bewegte, und daß andererseits die
Theologie mehr oder minder von dem philosophischen Denken inficirt wurde.
Man nehme noch heut zu Tage, wo anscheinend der Gegensatz ein viel größerer ge¬
worden ist, ans der einen Seite etwa Strauß und Feuerbach, auf der andern
Nitzsch und Tholuck, und frage sich, ob nicht die, sittliche Grundlage die
nämliche ist. In Beziehung aus die Theorie entbrennt ein heftiges Wortgefecht,
aber die Praxis wird davon nicht berührt, und erst durch weitläufige Deductione"
sucht man sich einzureden, daß auch die Praxis darunter leiden müsse, daß man
nicht mehr ein guter Familienvater sein könne, wenn man nicht an die heilige


analysirt, bis man über der Aufmerksamkeit auf das Detail die Hauptsache ganz
ans dem Auge verliert, ist mau auf die seltsame Idee gekommen, der Protestan¬
tismus sei eigentlich in religiöser Hinsicht' ein Rückschritt gewesen. Man hat dabei
lediglich auf die Lehren Bezug genommen, und da ist nicht zu bestreiten, daß in
einzelnen Punkten der lutherische oder calvinistische Dogmatismus den gewöhnli¬
chen Vorstellungen stärker widerspricht, als irgend ein Artikel des katholischen Ka¬
techismus. Allein der Protestantismus ist nur in seinem Raisonnement paradox,
und da sich hinter jedem Raisonnement doch irgend ein Gedanke verbergen muß,
so kann man demselben ein anderes entgegensetzen. So lange der Gegensatz eine
Discussion zuläßt, läßt er auch eine Vermittelung zu. In praktischer Beziehung
dagegen hat der Protestantismus eine Revolution herbeigeführt, die als die vollkom¬
men ausreichende Grundlage aller weitern sittlichen Entwickelung betrachtet werden
kann, die noch Reformen, aber keine Revolutionen mehr zuläßt. Ich will von dem
verwickelten System der katholischen Sittlichkeit, welches beständig zu einer Revo¬
lution herausfordert, hier uur auf einige Punkte aufmerksam machen, das Cälibat
der Geistlichen, die Unauflöslichkeit der Ehe, die blinde Disciplin innerhalb der
Kirche und die Continuität des Wunders. In alleil diesen Punkten war der
Idealismus so hoch angespannt, daß er nicht durch Raisonnement, sondern nur
dnrch Spott und durch Leichtfertigkeit in der Praxis zu bekämpfen war. Aus
dem Cälibat gingen die galanten Abbas hervor, welche in der Gesellschaft des
18. Jahrhunderts eine Hauptrolle spielten, ans der Unauflöslichkeit der Ehe je-,
ner grenzenlose Leichtsinn in Beziehung aus die eheliche Treue, der sich noch bis
auf unsre Tage erstreckt, und der nicht nnr in dem strenger denkenden England,
sondern selbst in Dentschland eine gerechte Entrüstung hervorruft. Mit der stren¬
gen Disciplin der Geistlichkeit hing die vollständige Trennung der bürgerlichen
von. der geistlichen Welt zusammen, und der Glaube an die Continuität des Wun-
ders, d. h. an eine fortwährende Unterbrechung des Naturlaufs, machte die Wis¬
senschaft zur Feindin der Kirche. In allen diesen Punkten ließ der Protestan¬
tismus nicht nur eine Vermittelung mit der öffentlichen Meinung zu, sondern er
gab ihr eigentlich auch den realen Hält, und so kam es, daß sich unsre Philosophie
zum großen Theil in theologischen Formen bewegte, und daß andererseits die
Theologie mehr oder minder von dem philosophischen Denken inficirt wurde.
Man nehme noch heut zu Tage, wo anscheinend der Gegensatz ein viel größerer ge¬
worden ist, ans der einen Seite etwa Strauß und Feuerbach, auf der andern
Nitzsch und Tholuck, und frage sich, ob nicht die, sittliche Grundlage die
nämliche ist. In Beziehung aus die Theorie entbrennt ein heftiges Wortgefecht,
aber die Praxis wird davon nicht berührt, und erst durch weitläufige Deductione»
sucht man sich einzureden, daß auch die Praxis darunter leiden müsse, daß man
nicht mehr ein guter Familienvater sein könne, wenn man nicht an die heilige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/350>, abgerufen am 05.05.2024.