Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Unsicherheit raubt ihm auch die Kalte seiner Ironie und die unbedingte Herr¬
schaft über sich selbst, wodurch er früher dem Volk imponirte und es seinem
Willen unterthänig machte. Indem er errathen wird, geht seine geistige Ueber-
legenheit verloren. Er fängt an zu moralisiren, und sich über die Verderbtheit
der gegenwärtigen Zeit, welcher er die Vollkommenheit des frühern Alters ent¬
gegensetzt, bitter zu beklagen. Endlich wird er von einem jungen Manne, der
zuerst als naiver, gutmüthiger und unbefangener Jüngling anftritt, ans Rache
crmorde.t. -- Taylor hat sich alle Mühe gegeben, die Widersprüche dieses
räthselhaften Charakters durch sorgfältige Motivivuug des Einzelnen zu ver¬
mitteln; allein es gelingt ihm nicht, uns zu überzeugen, wir haben doch überall
das Gefühl, daß eine solche Verbindung heterogener Welten eine unmögliche ist,
und daß wir es nicht mit einer freien Schöpfung des natürlichen Empfindens,
sondern mit einer Ausgeburt des klügelnden Verstandes zu thun haben.

Das dritte Stück: Schön-Edwin hat einen audern Vorwurf. Der
Held desselben ist der heilige Dunstan, der geistliche Tyrann Englands. Taylor
stellt sich die Aufgabe., ihn nicht blos als ehrgeizigen Heuchler, oder blos als
Fanatiker zu zeichnen, sondern diese Eigenschaften durch einander zu mische". Der
Grundzug des Charakters ist jener unbeugsame Hochmuth, der die Welt zu seinen
Füßen scheu will, weil er sie uicht genug achtet, und sich selber überschätzt; aber er ist
gefärbt durch die Gluth religiöser Begeisterung und durch jene Träumereien
eines überreizten Gehirns, die sich kaum mehr vom partiellen Wahnsinn
unterscheiden lassen. Er hat Visionen und glaubt an dieselbe", ja er fühlt es,
daß die Einsicht in die himmlischen Zahlen für den Propheten keine wohlthätige
Gabe ist, und weiß durch diesen sehr sein angedeuteten Zug vorüber-
gehend unser Mitleid zu erregen; zugleich aber betrügt er das Volk durch
fingirte Wunder und dnrch die allcrgröbste Maschinerie, die er mit einem
gewissen selbstgefälligen Cynismus anwendet. Es ist das ein sehr kühner Vor-
wurf, so kühn, daß er sast über die Grenzen des Möglichen hinausgeht, aber
die Ausführung desselben ist sehr interessant. Die Macht, welche der entschlossene
Wille auf schwankende und ungewisse Gemüther ausübt, ist vortrefflich dargestellt.
Die plötzlichen Anfälle voll Wildheit und Naserei sind gut motivirt und ergreifen
uns, und die Betrachtungen, die er in freien Augenblicken anstellt, find zum Theil
sehr tiefer Natur, denn wo er uicht vou seinem Fanatismus geblendet wird, hat
er eine klare Einsicht in das Wesen der Dinge. Es wird uns auch ein Blick in
seiue Vergangenheit.verstattet. Wir erfahren, daß er uicht immer dieser hart¬
herzige, kalte Priester gewesen ist, daß auch ihn Satan versucht hat, zuerst w
der Gestalt eines Weibes, und können aus diesem vollständigen Sieg über seine
irdischen Leidenschaften die Macht seines Geistes ermessen. Trotz dieser vortreff/
lieben Ausführung macht der Charakter doch immer nur den Eindruck einer cul¬
turhistorischen Curiosität, und so kommen uns alle diese Greuel, die das Drama


Unsicherheit raubt ihm auch die Kalte seiner Ironie und die unbedingte Herr¬
schaft über sich selbst, wodurch er früher dem Volk imponirte und es seinem
Willen unterthänig machte. Indem er errathen wird, geht seine geistige Ueber-
legenheit verloren. Er fängt an zu moralisiren, und sich über die Verderbtheit
der gegenwärtigen Zeit, welcher er die Vollkommenheit des frühern Alters ent¬
gegensetzt, bitter zu beklagen. Endlich wird er von einem jungen Manne, der
zuerst als naiver, gutmüthiger und unbefangener Jüngling anftritt, ans Rache
crmorde.t. — Taylor hat sich alle Mühe gegeben, die Widersprüche dieses
räthselhaften Charakters durch sorgfältige Motivivuug des Einzelnen zu ver¬
mitteln; allein es gelingt ihm nicht, uns zu überzeugen, wir haben doch überall
das Gefühl, daß eine solche Verbindung heterogener Welten eine unmögliche ist,
und daß wir es nicht mit einer freien Schöpfung des natürlichen Empfindens,
sondern mit einer Ausgeburt des klügelnden Verstandes zu thun haben.

Das dritte Stück: Schön-Edwin hat einen audern Vorwurf. Der
Held desselben ist der heilige Dunstan, der geistliche Tyrann Englands. Taylor
stellt sich die Aufgabe., ihn nicht blos als ehrgeizigen Heuchler, oder blos als
Fanatiker zu zeichnen, sondern diese Eigenschaften durch einander zu mische». Der
Grundzug des Charakters ist jener unbeugsame Hochmuth, der die Welt zu seinen
Füßen scheu will, weil er sie uicht genug achtet, und sich selber überschätzt; aber er ist
gefärbt durch die Gluth religiöser Begeisterung und durch jene Träumereien
eines überreizten Gehirns, die sich kaum mehr vom partiellen Wahnsinn
unterscheiden lassen. Er hat Visionen und glaubt an dieselbe», ja er fühlt es,
daß die Einsicht in die himmlischen Zahlen für den Propheten keine wohlthätige
Gabe ist, und weiß durch diesen sehr sein angedeuteten Zug vorüber-
gehend unser Mitleid zu erregen; zugleich aber betrügt er das Volk durch
fingirte Wunder und dnrch die allcrgröbste Maschinerie, die er mit einem
gewissen selbstgefälligen Cynismus anwendet. Es ist das ein sehr kühner Vor-
wurf, so kühn, daß er sast über die Grenzen des Möglichen hinausgeht, aber
die Ausführung desselben ist sehr interessant. Die Macht, welche der entschlossene
Wille auf schwankende und ungewisse Gemüther ausübt, ist vortrefflich dargestellt.
Die plötzlichen Anfälle voll Wildheit und Naserei sind gut motivirt und ergreifen
uns, und die Betrachtungen, die er in freien Augenblicken anstellt, find zum Theil
sehr tiefer Natur, denn wo er uicht vou seinem Fanatismus geblendet wird, hat
er eine klare Einsicht in das Wesen der Dinge. Es wird uns auch ein Blick in
seiue Vergangenheit.verstattet. Wir erfahren, daß er uicht immer dieser hart¬
herzige, kalte Priester gewesen ist, daß auch ihn Satan versucht hat, zuerst w
der Gestalt eines Weibes, und können aus diesem vollständigen Sieg über seine
irdischen Leidenschaften die Macht seines Geistes ermessen. Trotz dieser vortreff/
lieben Ausführung macht der Charakter doch immer nur den Eindruck einer cul¬
turhistorischen Curiosität, und so kommen uns alle diese Greuel, die das Drama


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281067"/>
          <p xml:id="ID_1282" prev="#ID_1281"> Unsicherheit raubt ihm auch die Kalte seiner Ironie und die unbedingte Herr¬<lb/>
schaft über sich selbst, wodurch er früher dem Volk imponirte und es seinem<lb/>
Willen unterthänig machte. Indem er errathen wird, geht seine geistige Ueber-<lb/>
legenheit verloren. Er fängt an zu moralisiren, und sich über die Verderbtheit<lb/>
der gegenwärtigen Zeit, welcher er die Vollkommenheit des frühern Alters ent¬<lb/>
gegensetzt, bitter zu beklagen. Endlich wird er von einem jungen Manne, der<lb/>
zuerst als naiver, gutmüthiger und unbefangener Jüngling anftritt, ans Rache<lb/>
crmorde.t. &#x2014; Taylor hat sich alle Mühe gegeben, die Widersprüche dieses<lb/>
räthselhaften Charakters durch sorgfältige Motivivuug des Einzelnen zu ver¬<lb/>
mitteln; allein es gelingt ihm nicht, uns zu überzeugen, wir haben doch überall<lb/>
das Gefühl, daß eine solche Verbindung heterogener Welten eine unmögliche ist,<lb/>
und daß wir es nicht mit einer freien Schöpfung des natürlichen Empfindens,<lb/>
sondern mit einer Ausgeburt des klügelnden Verstandes zu thun haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1283" next="#ID_1284"> Das dritte Stück: Schön-Edwin hat einen audern Vorwurf. Der<lb/>
Held desselben ist der heilige Dunstan, der geistliche Tyrann Englands. Taylor<lb/>
stellt sich die Aufgabe., ihn nicht blos als ehrgeizigen Heuchler, oder blos als<lb/>
Fanatiker zu zeichnen, sondern diese Eigenschaften durch einander zu mische». Der<lb/>
Grundzug des Charakters ist jener unbeugsame Hochmuth, der die Welt zu seinen<lb/>
Füßen scheu will, weil er sie uicht genug achtet, und sich selber überschätzt; aber er ist<lb/>
gefärbt durch die Gluth religiöser Begeisterung und durch jene Träumereien<lb/>
eines überreizten Gehirns, die sich kaum mehr vom partiellen Wahnsinn<lb/>
unterscheiden lassen. Er hat Visionen und glaubt an dieselbe», ja er fühlt es,<lb/>
daß die Einsicht in die himmlischen Zahlen für den Propheten keine wohlthätige<lb/>
Gabe ist, und weiß durch diesen sehr sein angedeuteten Zug vorüber-<lb/>
gehend unser Mitleid zu erregen; zugleich aber betrügt er das Volk durch<lb/>
fingirte Wunder und dnrch die allcrgröbste Maschinerie, die er mit einem<lb/>
gewissen selbstgefälligen Cynismus anwendet. Es ist das ein sehr kühner Vor-<lb/>
wurf, so kühn, daß er sast über die Grenzen des Möglichen hinausgeht, aber<lb/>
die Ausführung desselben ist sehr interessant. Die Macht, welche der entschlossene<lb/>
Wille auf schwankende und ungewisse Gemüther ausübt, ist vortrefflich dargestellt.<lb/>
Die plötzlichen Anfälle voll Wildheit und Naserei sind gut motivirt und ergreifen<lb/>
uns, und die Betrachtungen, die er in freien Augenblicken anstellt, find zum Theil<lb/>
sehr tiefer Natur, denn wo er uicht vou seinem Fanatismus geblendet wird, hat<lb/>
er eine klare Einsicht in das Wesen der Dinge. Es wird uns auch ein Blick in<lb/>
seiue Vergangenheit.verstattet. Wir erfahren, daß er uicht immer dieser hart¬<lb/>
herzige, kalte Priester gewesen ist, daß auch ihn Satan versucht hat, zuerst w<lb/>
der Gestalt eines Weibes, und können aus diesem vollständigen Sieg über seine<lb/>
irdischen Leidenschaften die Macht seines Geistes ermessen. Trotz dieser vortreff/<lb/>
lieben Ausführung macht der Charakter doch immer nur den Eindruck einer cul¬<lb/>
turhistorischen Curiosität, und so kommen uns alle diese Greuel, die das Drama</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Unsicherheit raubt ihm auch die Kalte seiner Ironie und die unbedingte Herr¬ schaft über sich selbst, wodurch er früher dem Volk imponirte und es seinem Willen unterthänig machte. Indem er errathen wird, geht seine geistige Ueber- legenheit verloren. Er fängt an zu moralisiren, und sich über die Verderbtheit der gegenwärtigen Zeit, welcher er die Vollkommenheit des frühern Alters ent¬ gegensetzt, bitter zu beklagen. Endlich wird er von einem jungen Manne, der zuerst als naiver, gutmüthiger und unbefangener Jüngling anftritt, ans Rache crmorde.t. — Taylor hat sich alle Mühe gegeben, die Widersprüche dieses räthselhaften Charakters durch sorgfältige Motivivuug des Einzelnen zu ver¬ mitteln; allein es gelingt ihm nicht, uns zu überzeugen, wir haben doch überall das Gefühl, daß eine solche Verbindung heterogener Welten eine unmögliche ist, und daß wir es nicht mit einer freien Schöpfung des natürlichen Empfindens, sondern mit einer Ausgeburt des klügelnden Verstandes zu thun haben. Das dritte Stück: Schön-Edwin hat einen audern Vorwurf. Der Held desselben ist der heilige Dunstan, der geistliche Tyrann Englands. Taylor stellt sich die Aufgabe., ihn nicht blos als ehrgeizigen Heuchler, oder blos als Fanatiker zu zeichnen, sondern diese Eigenschaften durch einander zu mische». Der Grundzug des Charakters ist jener unbeugsame Hochmuth, der die Welt zu seinen Füßen scheu will, weil er sie uicht genug achtet, und sich selber überschätzt; aber er ist gefärbt durch die Gluth religiöser Begeisterung und durch jene Träumereien eines überreizten Gehirns, die sich kaum mehr vom partiellen Wahnsinn unterscheiden lassen. Er hat Visionen und glaubt an dieselbe», ja er fühlt es, daß die Einsicht in die himmlischen Zahlen für den Propheten keine wohlthätige Gabe ist, und weiß durch diesen sehr sein angedeuteten Zug vorüber- gehend unser Mitleid zu erregen; zugleich aber betrügt er das Volk durch fingirte Wunder und dnrch die allcrgröbste Maschinerie, die er mit einem gewissen selbstgefälligen Cynismus anwendet. Es ist das ein sehr kühner Vor- wurf, so kühn, daß er sast über die Grenzen des Möglichen hinausgeht, aber die Ausführung desselben ist sehr interessant. Die Macht, welche der entschlossene Wille auf schwankende und ungewisse Gemüther ausübt, ist vortrefflich dargestellt. Die plötzlichen Anfälle voll Wildheit und Naserei sind gut motivirt und ergreifen uns, und die Betrachtungen, die er in freien Augenblicken anstellt, find zum Theil sehr tiefer Natur, denn wo er uicht vou seinem Fanatismus geblendet wird, hat er eine klare Einsicht in das Wesen der Dinge. Es wird uns auch ein Blick in seiue Vergangenheit.verstattet. Wir erfahren, daß er uicht immer dieser hart¬ herzige, kalte Priester gewesen ist, daß auch ihn Satan versucht hat, zuerst w der Gestalt eines Weibes, und können aus diesem vollständigen Sieg über seine irdischen Leidenschaften die Macht seines Geistes ermessen. Trotz dieser vortreff/ lieben Ausführung macht der Charakter doch immer nur den Eindruck einer cul¬ turhistorischen Curiosität, und so kommen uns alle diese Greuel, die das Drama

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/450>, abgerufen am 06.05.2024.