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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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schon zur Convenienz geworden ist, den Epigonen leicht macht, ohne erhebliche Unbe¬
quemlichkeit leidliche Gedichte hervorzubringen, so erschwert dieser Umstand andrerseits die
Freiheit und Ursprünglichkeit des Empfindens. Um etwas Neues zu produciren, hatte
man sich zuletzt in die barocksten und seltsamsten Formen verloren, die man im Bagdad-
schm oder bei den Chinesen suchte, und es ist ein sehr gutes Zeichen, daß man anfängt
der Ghaselen und Mcckamen überdrüssig zu werden, ebenso wie der politischen Prophe¬
zeihungen, und daß man sich dem deutschen Volkslied mit erneuter Innigkeit zuwendet. --
Ein sehr erfreuliches Beispiel sind in dieser Beziehung die "Gedichte von Theodor
Creizenach" (zweite Ausgabe, Frankfurt a. M,, Literarische Anstalt). Sie sprechen
eine sehr gesunde, natürliche und ungekünstelte Empfindung aus, und sind zum großen
Theil sür die Komposition geeignet. Der Dichter hat der Zeit und ihren Tendenzen
seinen Tribut in ein Paar kleinen Liedern abgetragen, im Uebrigen bewegt er sich in
dem Kreise der einfachen lyrischen Empfindung. Unter den Gedichtsammlungen, welche
uns vorliegen, die übrigens diesmal ausnahmsweise ohne gepreßtes Papier und ohne
Goldschnitt austreten, verdienen sie entschieden den Vorzug.- -- Nicht ganz das gleiche
Lob kann man der folgenden Sammlung zusprechen: "Schatten. Poetische Er¬
zählungen von Moritz Hartmann." (Darmstadt, Leske.) Schon der Titel, der
von der Victor Hugo'schen Erfindung: Ks^vns et Ombres nur den düstern Theil adop-
tirt, noch mehr aber das Titelkupfer, auf welchem ein weltschmerzdurchfahrner Jüngling
mit fliegenden Haaren, hohlen Augen und entsetzten Blick sich an einen Felsen lehnt
und von gespenstischen Wolkenzügen umflattert wird, muß uns Bedenken erregen, und
in der That finden wir in den Gedichten selbst eine Reihe gegenstandloser coquetter
Seufzer, wie sie die junge Schule mit ihren Modekupfcrn zu verbinden pflegt, z. B.

Zuletzt findet er natürlich eine holde Blume, deren Duft seine kranke Brust heilt.
Das ist ja Alles schon dagewesen, und wenn er nachher wieder in Stoßseufzer ausbricht:

-- so sollte er bedenken, daß die Schwindsucht Heuer aus der Mode gekommen ist, daß
eine bloße Melancholie sich nicht mehr selber rechtfertigt, sondern sich auf irgend einen
haltbaren Grund stützen muß, wenn sie auf unsre Theilnahme Anspruch machen will.


schon zur Convenienz geworden ist, den Epigonen leicht macht, ohne erhebliche Unbe¬
quemlichkeit leidliche Gedichte hervorzubringen, so erschwert dieser Umstand andrerseits die
Freiheit und Ursprünglichkeit des Empfindens. Um etwas Neues zu produciren, hatte
man sich zuletzt in die barocksten und seltsamsten Formen verloren, die man im Bagdad-
schm oder bei den Chinesen suchte, und es ist ein sehr gutes Zeichen, daß man anfängt
der Ghaselen und Mcckamen überdrüssig zu werden, ebenso wie der politischen Prophe¬
zeihungen, und daß man sich dem deutschen Volkslied mit erneuter Innigkeit zuwendet. —
Ein sehr erfreuliches Beispiel sind in dieser Beziehung die „Gedichte von Theodor
Creizenach" (zweite Ausgabe, Frankfurt a. M,, Literarische Anstalt). Sie sprechen
eine sehr gesunde, natürliche und ungekünstelte Empfindung aus, und sind zum großen
Theil sür die Komposition geeignet. Der Dichter hat der Zeit und ihren Tendenzen
seinen Tribut in ein Paar kleinen Liedern abgetragen, im Uebrigen bewegt er sich in
dem Kreise der einfachen lyrischen Empfindung. Unter den Gedichtsammlungen, welche
uns vorliegen, die übrigens diesmal ausnahmsweise ohne gepreßtes Papier und ohne
Goldschnitt austreten, verdienen sie entschieden den Vorzug.- — Nicht ganz das gleiche
Lob kann man der folgenden Sammlung zusprechen: „Schatten. Poetische Er¬
zählungen von Moritz Hartmann." (Darmstadt, Leske.) Schon der Titel, der
von der Victor Hugo'schen Erfindung: Ks^vns et Ombres nur den düstern Theil adop-
tirt, noch mehr aber das Titelkupfer, auf welchem ein weltschmerzdurchfahrner Jüngling
mit fliegenden Haaren, hohlen Augen und entsetzten Blick sich an einen Felsen lehnt
und von gespenstischen Wolkenzügen umflattert wird, muß uns Bedenken erregen, und
in der That finden wir in den Gedichten selbst eine Reihe gegenstandloser coquetter
Seufzer, wie sie die junge Schule mit ihren Modekupfcrn zu verbinden pflegt, z. B.

Zuletzt findet er natürlich eine holde Blume, deren Duft seine kranke Brust heilt.
Das ist ja Alles schon dagewesen, und wenn er nachher wieder in Stoßseufzer ausbricht:

— so sollte er bedenken, daß die Schwindsucht Heuer aus der Mode gekommen ist, daß
eine bloße Melancholie sich nicht mehr selber rechtfertigt, sondern sich auf irgend einen
haltbaren Grund stützen muß, wenn sie auf unsre Theilnahme Anspruch machen will.


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[0169] schon zur Convenienz geworden ist, den Epigonen leicht macht, ohne erhebliche Unbe¬ quemlichkeit leidliche Gedichte hervorzubringen, so erschwert dieser Umstand andrerseits die Freiheit und Ursprünglichkeit des Empfindens. Um etwas Neues zu produciren, hatte man sich zuletzt in die barocksten und seltsamsten Formen verloren, die man im Bagdad- schm oder bei den Chinesen suchte, und es ist ein sehr gutes Zeichen, daß man anfängt der Ghaselen und Mcckamen überdrüssig zu werden, ebenso wie der politischen Prophe¬ zeihungen, und daß man sich dem deutschen Volkslied mit erneuter Innigkeit zuwendet. — Ein sehr erfreuliches Beispiel sind in dieser Beziehung die „Gedichte von Theodor Creizenach" (zweite Ausgabe, Frankfurt a. M,, Literarische Anstalt). Sie sprechen eine sehr gesunde, natürliche und ungekünstelte Empfindung aus, und sind zum großen Theil sür die Komposition geeignet. Der Dichter hat der Zeit und ihren Tendenzen seinen Tribut in ein Paar kleinen Liedern abgetragen, im Uebrigen bewegt er sich in dem Kreise der einfachen lyrischen Empfindung. Unter den Gedichtsammlungen, welche uns vorliegen, die übrigens diesmal ausnahmsweise ohne gepreßtes Papier und ohne Goldschnitt austreten, verdienen sie entschieden den Vorzug.- — Nicht ganz das gleiche Lob kann man der folgenden Sammlung zusprechen: „Schatten. Poetische Er¬ zählungen von Moritz Hartmann." (Darmstadt, Leske.) Schon der Titel, der von der Victor Hugo'schen Erfindung: Ks^vns et Ombres nur den düstern Theil adop- tirt, noch mehr aber das Titelkupfer, auf welchem ein weltschmerzdurchfahrner Jüngling mit fliegenden Haaren, hohlen Augen und entsetzten Blick sich an einen Felsen lehnt und von gespenstischen Wolkenzügen umflattert wird, muß uns Bedenken erregen, und in der That finden wir in den Gedichten selbst eine Reihe gegenstandloser coquetter Seufzer, wie sie die junge Schule mit ihren Modekupfcrn zu verbinden pflegt, z. B. Zuletzt findet er natürlich eine holde Blume, deren Duft seine kranke Brust heilt. Das ist ja Alles schon dagewesen, und wenn er nachher wieder in Stoßseufzer ausbricht: — so sollte er bedenken, daß die Schwindsucht Heuer aus der Mode gekommen ist, daß eine bloße Melancholie sich nicht mehr selber rechtfertigt, sondern sich auf irgend einen haltbaren Grund stützen muß, wenn sie auf unsre Theilnahme Anspruch machen will.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/169>, abgerufen am 15.05.2024.